10. Rede: Prof. Klaus-Dieter Lehmann
Prof. Dr. h.c. Klaus-Dieter Lehmann
10. Hoffmann-von-Fallersleben-Rede 2011
am Sonntag, dem 1. Mai 2011, 11.00 Uhr,
im Kaisersaal von Schloss Corvey
Ich bedanke mich sehr für die Einladung, heute am 1. Mai 2011 in Schloss Corvey die Hoffmann von Fallersleben-Rede halten zu dürfen. Es ist für mich eine besondere Ehre und eine große Freude zugleich.
Schloss Corvey ist für mich ein vertrauter Ort. Als früherer Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz habe ich im Rahmen des Föderalen Programms enge Verbindungen zwischen Berlin und Schloss Corvey geknüpft. Wir haben die Ausstellungstätigkeit zwischen den Staatlichen Museen zu Berlin und Schloss und Abteikirche Corvey in Höxter wieder belebt. Ich erinnere mich an die beeindruckende Ausstellung „Max Liebermann bis Willi Baumeister 2005, oder die Ausstellung zu “Richard Lepsius: Preußen am Nil“ und schließlich die Druckgraphik von Rembrandt, 2006. Im Rahmen der Rembrandt-Ausstellung entstand auch als Kompositionsauftrag an Walter Steffens, der in der Nähe von Höxter lebt, die Bildvertonung von Rembrandts „Hundertguldenblatt“, das in Corvey uraufgeführt wurde und anschließend in der Berliner Rembrandt-Ausstellung zu hören war. Wir haben außerdem den Preisträgern des von der Stiftung jährlich ausgelobten Felix Mendelssohn-Bartholdy-Wettbewerbs, einem der angesehensten Musiknachwuchswettbewerbe in Deutschland, beim „Finale Junge Meister“ in Schloss Corvey Auftritte ermöglicht, so spielte beispielsweise das legendäre Kim-Trio hier. Die Zusammenarbeit war hervorragend, der Ort inspirierend. Und ich glaube, das Publikum hat diese kulturelle Programmarbeit zwischen der Hauptstadt und der Region sehr geschätzt.
Ähnlich mit der Vertrautheit geht es mir mit Hoffmann von Fallersleben. Viele seiner Lieder und Gedichte gehören zu meiner frühen Jugend, obwohl mir damals nicht unbedingt geläufig war, dass sie von Hoffmann von Fallersleben stammten. Ich denke etwa an „Winter ade, scheiden tut weh“ oder „Morgen kommt der Weihnachtsmann“, oder „Alle Vögel sind schon da“, oder „Ein Männlein steht im Walde“, oder „Summ, summ, summ, Bienchen summ herum“, oder „Kuckuck, Kuckuck ruft’s aus dem Wald“, oder „Der Kuckuck und der Esel, die hatten einen Streit“, oder, oder, oder. Über 500 Kinderlieder hat er geschrieben. Schumann, Mendelssohn-Bartholdy, Brahms und sein enger Freund Franz Liszt haben viele seiner Texte vertont. Es waren im besten Sinn Volkslieder, Gassenhauer, sie gehörten zum täglichen Leben. Sicher werden auch Sie Ihre Erinnerungen daran haben.
Aber ganz so harmlos wurden seine Texte von der Obrigkeit nicht eingeschätzt. Denn 1842 sprach man wegen seiner „Unpolitischen Lieder“ ein Berufsverbot aus, das man mit folgender Begründung als staatsfeindlich begründete: „Es werden in den hier zugänglichen Texten und Liedern die öffentlichen und sozialen Zustände in Deutschland vielfach mit bitterem Spott angegriffen, verhöhnt und verächtlich gemacht; es werden Gesinnungen und Ansichten ausgedrückt, die bei den Lesern, insbesondere von jugendlichem Alter, Missvergnügen über die bestehende Ordnung der Dinge hervorrufen und einen Geist zu erwecken, geeignet sind, der zunächst für die Jugend, aber dann auch im Allgemeinen nur verderblich wirken kann.“ Sie waren tatsächlich nicht so harmlos. Lieder vom deutschen Philister, von der deutschen Freiheit, vom Militärischen Prunk oder vom deutschen Ausländer oder „Knüppel aus dem Sack“ zeigen das an. Er war nie der Revolutionär mit der Waffe, nie der Revolutionär mit dem politischen Manifest. Zu den politischen Theoretikern und insbesondere zu den sozialistischen wie Karl Marx oder Friedrich Engels hatte er eine deutliche Distanz. Und trotzdem war er in seiner Wirkung hoch politisch. Seine Waffe war das Wort, die Literatur. Im Gedicht lag seine Stärke zu zeigen, wofür er stand. Die Lyrik war für viele Autoren des Vormärz die wichtigste Gattung, in der sie ihre politischen Absichten ausdrücken konnten, ohne dass die Zensur gleich einschritt. Der Anlass für seine politisch-literarischen Aktivitäten war die Absetzung von Jakob und Wilhelm Grimm um die Jahreswende 1837/1838, die zu den Göttinger Sieben gehörten und seine Mentoren gewesen sind.
Es ist ihm nicht gut bekommen, wie wir alle wissen. Seine Biografie steht für seine Haltung. 1842 von der preußischen Regierung pensionslos seiner Professur in Breslau enthoben, des Landes verwiesen, ständig von der Polizei bespitzelt, fand er erst achtzehn Jahre nach seiner Entlassung, auch durch die Fürsprache von Franz Liszt, wieder einen sicheren Ort. Er wurde Schlossbibliothekar in Corvey im Dienste des Herzogs Viktor von Ratibor, Fürst von Corvey.
In den Kanon der Deutschen hat er sich für immer eingeschrieben mit dem am 26. August 1841 verfassten Lied der Deutschen. 1922 wurde es die Nationalhymne der Weimarer Republik und seit 1952 ist die dritte Strophe die Nationalhymne der Bundesrepublik Deutschland und blieb sie auch nach der Vereinigung Deutschlands.
Zur Zeit ist das handschriftliche Original des Deutschlandliedes im Deutschen Historischen Museum in Berlin ausgestellt. Anlass ist eine Ausstellung zum 350-jährigen Jubiläum der Staatsbibliothek zu Berlin, der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek Unter den Linden. Die Handschriften und Drucke aus dem Besitz von Hoffmann von Fallersleben hatte die Bibliothek schon 1850 durch Kauf erworben, das Manuskript des Deutschlandliedes kam erst 1903 ins Haus.
Der Kanon der Deutschen – gibt es ihn noch, sind wir heute nicht zu sehr im tagesaktuellen Geschehen befangen, hat die Globalisierung nicht neue Einflusssphären geschaffen, neue Beziehungen zwischen innen und außen gebildet, neue Bilderwelten und Erzählformen hervor gebracht, sind die Wissenswelten nicht in ungeahnten Maß beschleunigt und fragmentiert?
Es gibt zwei gegensätzliche Äußerungen zweier berühmter Deutscher zur kulturellen Überlieferung und damit zum Kanon. Eine stammt von Johann Wolfgang von Goethe: „Was Du ererbt von Deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen.“ Die andere Aussage ist von Karl Marx: „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf den Gehirnen der Lebenden.“ In diesem Spannungsfeld bewegt sich das kollektive Erinnern der Deutschen.
Das Verbindende für Hoffmann von Fallersleben waren Sprache und Kultur. Sie waren für ihn der Kern der Gemeinsamkeit. Fraglos war Deutschland zuerst eine Kulturnation bevor es eine politische Nation wurde. Die Kultur sollte jenes einigende Band zwischen den Deutschen stiften, das in ungezählte Territorien zersplitterte Politik nicht zu knüpfen willens oder in der Lage war. Das hat unsere lange historische Entwicklung geprägt. Der geistige wie geographische Bezugsraum für den Umgang mit dem Ererbten ist deshalb auch noch heute weniger die Nation, als vielmehr die Region oder die Stadt. Das macht durchaus den kulturellen Reichtum Deutschlands aus. Gleichwohl verbindet sich dieser gemeinsame Formenschatz von geistigen und materiellen Zeugnissen, die von den besonderen Fähigkeiten, den Idealen und Werten ihrer Schöpfer Zeugnis ablegen, zu einer übergreifenden Identität.
Ich hatte das große Privileg, zehn Jahre – bis Februar 2008 – als Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die Wiederherstellung der Berliner Museumsinsel nach der Wiedervereinigung Deutschlands zu verantworten. Sie sollte von ihrer ursprünglichen Idee die Kulturnation Deutschland legitimieren. Der Beginn datiert 1830. Die geistigen Wurzeln gründen in der Antike. Die Sammlungen erhoben den Anspruch auf einen deutschen Patriotismus, der gleichrangig mit der Kunst der Welt kommunizieren sollte.
Im Treppenhaus der Nationalgalerie sitzen der König von Preußen, Friedrich Wilhelm IV. und der König von Bayern, Ludwig I. als Künstlerkönige einer Kulturnation. Der Bau der Museen war sicher auch eine Reaktion auf die Napoleonischen Kriege. Denn die triumphale Rückkehr der damals geraubten Kunstwerke aus Paris nach Kassel, nach München, nach Darmstadt und vor allem nach Berlin im Jahr 1815 hat das deutsche Nationalbewusstsein entscheidend geprägt. Die Museumsinsel gehört zu den Lieux de mémoires – so ein Begriff von Pierre Nora – den Orten der Erinnerung. Diese Orte erscheinen nicht nur als unveräußerlich und zu schützend, sondern wirken durch ihre immer wieder unternommene zeitgemäße Aneignung auf die Gegenwart ein. Heute lassen wir uns bei der Wiederherstellung der Museumsinsel von der Überzeugung leiten, eben nicht die Vergangenheit zu glorifizieren, sondern uns der Welt zu öffnen und den Werken ihre ursprüngliche Geltung durch die Unabhängigkeit der Museen zu geben.
Das Konzept der Museumsinsel war ein Gedanke der Aufklärung, ein Entwurf von Wilhelm von Humboldt, der damit nicht nur Kunst und Wissenschaft, sondern auch Bildung, Wissen und Sprache in einen unmittelbaren Zusammenhang brachte. Erstaunlich ist, dass dieses Konzept auch noch heute in einer globalisierten Welt seine Bedeutung hat und weiter entwickelt werden kann.
Wenn man das 19. Jahrhundert als das Jahrhundert der Kunstreligion der Deutschen bezeichnet, so bringt das 20. Jahrhundert einen tiefen Einschnitt durch den 1. Weltkrieg und die folgenden tief greifenden gesellschaftlichen Turbulenzen und Veränderungen, die dann in den absoluten Zivilisationsbruch durch das nationalsozialistische Deutschland münden. Damit kommen andere Erinnerungsorte in den Blick: brennende Denkmäler, geplünderte Bibliotheken, Auschwitz und Buchenwald. Niemand in Deutschland kommt daran vorbei, dass der Nationalsozialismus wie durch eine undurchdringliche Betonmauer die Sicht auf eine lange historische Dimension verstellt hat, dass Bedeutungsinhalte verfälscht wurden, dass Begriffe eine unauslöschliche einseitige Prägung erfahren haben. Kunst und Kultur wurden instrumentalisiert und ihrer eigenständigen Aura beraubt.
Es gab zur gleichen Zeit eine parallele deutsche Welt, die verstreute Welt des Exils, die sehr stark durch die deutschen Juden geprägt war. Das jüdische Erbe hat eine große Bedeutung für die kulturelle Entwicklung in Deutschland gehabt und der Auszug der jüdischen Mitbürger und natürlich auch ihre Vernichtung bedeuteten einen nicht zu kompensierenden Aderlass.
Dann kam die lange Zeit der deutschen Teilung. Erneut wurde der Kulturbegriff unterschiedlich ausgelegt. Die väterlose junge Gesellschaft der 68er in der Bundesrepublik wollte mit der Tradition und den kulturellen Wurzeln brechen. Ihr galt die gemeinsame Geschichte und Kultur nichts. Die DDR wiederum instrumentalisierte das kulturelle Erbe und pervertierte die Kunst zur Staatskunst, um die Staatsidee des kommunistischen Staates zu legitimieren. Erst die Wiedervereinigung Deutschlands besann sich wieder auf eine gemeinsame Geschichte, eine gemeinsame Sprache und kulturelle Symbole. Parolen wie „Wir sind ein Volk“ machten deutlich, dass die Vereinigung in erster Linie eine kulturelle Leistung war und die ökonomischen Einflüsse lediglich beschleunigend wirkten. Neue Bilder prägten die Erinnerungskultur und wurden Teil des kollektiven Gedächtnisses und des Kanon: der Fall der Mauer, der Reichstag mit der modernen Glaskuppel, Filme über die neuere deutsche Geschichte mit einer breiten Resonanz, eine Literatur mit neuer Lust am Historischen. Daniel Kehlmann veröffentlichte einen Roman über Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauss „Die Vermessung der Welt“ und hatte damit nicht nur in Deutschland einen Millionen-Erfolg. Uwe Timm, Uwe Tellkamp, Ingo Schulze, Durs Grünbein, Julia Franck –alle besetzen veränderte Themen, die aus der jüngeren deutschen Geschichte stammen. Die Leipziger Schule der Bildenden Künstler, z.B. Neo Rauch, macht auf das Deutsche in der Kunst neugierig. Sie haben in ihren Themen und Ausdrucksformen der Welt offensichtlich etwas zu sagen.
Hans Belting hat in den 90er Jahren ein viel beachtetes Buch publiziert:“ Die Identität im Zweifel.“ Als Resumée der vergangenen 40 bis 50 Jahre nach Kriegsende war das sicher eine ausgesprochen treffende Formulierung. Denn das Phänomen der Tabuisierung prägte in dieser Zeit den Umgang der Deutschen mit ihrer Geschichte Das ist noch immer ein schwieriges Erbe und konnte nicht ohne Folgen bleiben.
Unsere Gesellschaft in Deutschland hat seit dem Ende des 2. Weltkrieges eine tief greifende Entwicklung durchlebt und hat viel über sich nachgedacht, privat und öffentlich. Es galt die Kontaminierung fast aller Lebensbereiche durch den Nationalsozialismus zu reflektieren und aufzuarbeiten, die Demokratie kraftvoll zu bestätigen und die Wiedervereinigung als große Chance zu begreifen und als kulturelles Ereignis zu werten.
Diese Prozesse und das sich durchziehende Prinzip der Emanzipation waren durchaus ein kollektives Phänomen und festigten einen Kanon der eigenen Identität. Es ist kein Kanon, der in eherne Lettern gegossen ist. Er muss immer wieder erarbeitet werden, er darf auch keine falsche Ausschließlichkeit postulieren sondern muss Entwicklungen initiieren, die künftigen Anforderungen genügen können.
Eine wirklich breite Motivation, eine Aufbruchstimmung, eine Übernahme von Verantwortung in der Gesellschaft wird es langfristig nur geben, wenn eine Wertschätzung für Bildung in der Gesellschaft besteht. Daraus erwachsen öffentliches Interesse und persönliche Bereitschaft. Die derzeitige Position zur sog. Bildungsrepublik Deutschland, die sich in Koalitionspapieren der Regierung oder den Programmen der Länder finden, verengt den Bildungsbegriff in der Regel ökonomisch auf Aus- und Fortbildung. Das Messbare und Nützliche rückt in den Vordergrund. Aber es gibt mehr Aspekte diesseits und jenseits von „Bologna“. Mein Verständnis von Bildung geht über den engen Begriff von Aus- und Fortbildung hinaus. Es schließt die Entwicklung der ganzen Persönlichkeit ein und bedeutet immer auch Emanzipation, Urteilskraft, Differenzieren und Unterscheiden, zivilgesellschaftliche Verantwortung und kulturelle Teilhabe. Bildung zielt auf das Offene und Mögliche als demokratisches Element. Bildung heißt Sprachkompetenz, Bildung heißt Diskursfähigkeit, Bildung heißt Wissen, Fantasie und Medienkompetenz. Bildung soll Menschen aktivieren und soll sie auch emotional ansprechen. Mit der Bildung lernen wir, Maßstäbe zu setzen und uns zu orientieren – in Eigenen und im Fremden. Die Geschichte lehrt uns, dass wir auch hätten anders sein können und warum wir es nicht geworden sind. Die Tradition verbürgt, dass wir in bestimmten Lebensformen stehen, die uns geprägt haben und uns nicht täglich neu erfinden müssen.
Sie sehen, dass ich mit meiner Auffassung zum Kanon der Deutschen nahe Goethes Weltliteratur und Hoffmann von Fallersleben Zutrauen zur kulturellen Wirkung bin und weniger dem zu Anfang gemachten Zitat von Karl Marx. Es gibt diesen Kanon der Deutschen, ob in Sprache, Landschaft oder Städtebau, ob in der Bildenden Kunst, in Museen und Sammlungen.
Aber gleichzeitig hat sich seit der Zeit der revolutionären Entwicklungen und der Bildung der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert ein mindestens genau so einschneidender Prozess im 20. und 21. Jahrhundert für ein vereintes Europa etabliert. Europa lebte immer und lebt bis heute aus seiner Verschiedenheit. Aber das sollte nicht in unverbindlicher Beliebigkeit verbleiben. Das wäre zu kurz gesprungen. In unserer heutigen Zeit sollte der Kulturkanon einem geistigen Konzept folgen, das die Bewahrung des Kanons nicht in Frage stellt, aber auf eine neue Weise wirksam macht, mit der die kulturelle Vielfalt Europas sich mitteilt, zugänglich ist, wechselseitig wirkt und als Gegenstand des Wissens, der Wissenschaft und der Bildung verstanden wird. Damit wird er mehr als nur ein Sammelbegriff für Objekte der Identifikation oder undeutlicher nationaler Empfindungen.
Eine solche Auffassung fördert Offenheit und Interesse an anderen Kulturen. Für Europa lässt sich daraus eine Verantwortung für einen zusammengehörenden Kulturraum entwickeln. Das wäre kulturpolitisch höchst wünschenswert, weil damit die europäische Glaubwürdigkeit gestärkt würde. Und diese Glaubwürdigkeit ist bitter nötig.
Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat Europa durcheinander gewirbelt. Griechenland stand am Abgrund. Frankreich schlingerte wegen einer eher zaghaften Rentenreform, die britische Regierung hat einen Katalog der Grausamkeiten verkündet, der die Menschen zu machtvollen Demonstrationen veranlasst, Irland wird wieder zum Auswanderungsland, Portugal begibt sich unter den europäischen Rettungsschirm, Spanien meldet über 40% Jugendarbeitslosigkeit und Deutschland überbietet sich in Horrorszenarien bei der Integrationspolitik und begibt sich auf einen außenpolitischen Sonderweg. Die weitgehend ökonomische Ausrichtung des Staatenverbundes reicht offensichtlich nicht aus, ein gemeinsames Bewusstsein nach innen und ein gemeinsames Handeln nach außen zu entwickeln, das auch in Krisen belastbar ist. Das ist aber bei den kriegerischen und terroristischen Auseinandersetzungen in der Welt bitter nötig, insbesondere aber auch für eine überzeugende Haltung gegenüber den neuen Entwicklungen im Nahen Osten und Nordafrika.
Die zuletzt genannten revolutionären Entwicklungen, so verschieden sie auch im Einzelfall sein mögen, haben vieles gemeinsam. Sie werden nicht von islamistischen Strömungen oder ideologischen Predigern getragen. Formuliert werden die Freiheitsziele von einer jungen kulturellen Intelligenz, einer betrogenen Generation, die ihre Lebensplanung eigenständig bestimmen und die korrupten und verkrusteten Machtstrukturen stürzen will. Das Durchschnittsalter in Ägypten oder Tunesien liegt unter 30 Jahre. Es geht deshalb hier um eine bessere Zukunft, um Arbeit, um Chancen. Wenn die Erwartungen nicht in einer vertretbaren Zeit erreicht werden, wenn die jungen Demokratien allein gelassen werden, wird es zu einer Radikalisierung der Revolution kommen und die Brandherde werden sich ausweiten. Europa muss hier Antworten finden. Sie können sich nicht erschöpfen im Durchsetzen der Flugverbotszonen. Sie müssen sich zeigen in der Zusammenarbeit von Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft, Tourismus, Sport und anderen Lebensbereichen. Eine Garantie ist es trotzdem nicht, aber es werden zumindest Alternativen ermöglicht und die ausschließliche Fixierung auf Konflikte vermieden.
Vielleicht treten wir erneut in ein revolutionäres Zeitalter ein. Die Ursachenforschung ist nicht allzu schwer. Da ist zum einen die weltweite Entkolonisierung von Gesellschaften, die bislang unterdrückt waren und keinen Zugang zum eigenen historischen Bewusstsein hatten. Dazu rechne ich auch die, die mit despotischen Nachfolgeregierungen die kolonialen Strukturen und Grenzen aufrecht erhielten und erhalten. Als weitere Ursache ist die innere Entkolonisierung zu nennen, bei der in den jeweiligen Gesellschaften sich religiöse, soziale, sexuelle und ethnische Minderheiten Gehör und Einfluss verschaffen. Und schließlich haben das Ende der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts und der Zusammenbruch der Sowjetunion zu großen Veränderungen, Verwerfungen und Befreiungsbewegungen geführt, deren Konsolidierung noch immer nicht abgeschlossen ist.
Während Ende des 19. Jahrhunderts gerade einmal 36 Nationen existierten, gibt es derzeit fast 200 Nationalstaaten – Tendenz weiter steigend. Dabei geht es nicht immer friedfertig zu, das kann zu fundamentalistischen und nationalistischen Zügen führen. Nationalstaaten werden trotz oder wegen der Globalisierung ein fester Bestandteil der Weltordnung bleiben. Auch bei der Gründung der Europäischen Union blieben Nationalstaaten ein konstitutives Element, auch wenn sie sukzessive Teile ihrer Souveränität an die Gemeinschaft abgeben. Die Kultur behält jedoch ihre Eigenständigkeit und Eigenwilligkeit. Es muss aber heute darum gehen, für Nationalkulturen keine falsche Ausschließlichkeit zu postulieren, nicht Reservate zu schützen, sondern Gemeinsamkeiten zu entdecken oder aus Unterschieden zu lernen.
Gerade der Druck der Globalisierung verschärft das Bedürfnis nach kultureller Selbstvergewisserung. Es sind nicht alle Menschen gleichermaßen in New York, Peking oder Paris zu Hause. Begriffe wie Heimat oder Landschaft haben ihre starken Bezüge. Unser Föderalismus trägt viel zum kulturellen Reichtum bei. Das zeigt sich für mich auch in der Sprache und letztlich auch in den Dialekten, die in ihren sprachlichen Unterschieden auch eine spezifische Auffassung von Welt ausdrücken. Denken Sie nur an die Werbung des Landes Baden-Württemberg: „ Wir können alles – außer Hochdeutsch.“
Unsere gemeinsame Muttersprache Deutsch könnte man als Prototyp des deutschen Föderalismus bezeichnen – und vielleicht ist das eine Ursache für seine Popularität. Denn der Weg, den die deutsche Sprache ging, unterscheidet sich deutlich von den französischen oder italienischen Nachbarn. Keine zentrale Instanz hat die Regeln fixiert. Mit der Französischen Revolution kam es in Frankreich zu einer radikalen sprachlichen Vereinheitlichung, Dialekte und andere Sprachen auf dem Territorium wurden ausgemerzt.
Anders in Deutschland. Am Anfang des Neuhochdeutschen stand sicher Martin Luther mit seiner genialen Bibelübersetzung und seiner kraftvollen, bildhaften Sprache. Aber es war nur ein Element. Dort, wo es die meisten Buchdrucker gab, wurde der neue Sprachstil geprägt. Deutschland betrieb die Entwicklung einer einheitlichen Hochsprache ohne die Sympathie für die Dialekte zu opfern. Aus dieser Sprachliebe wurde unter den Nationalsozialisten der Sprachhass. Das Deutsche wurde zu einer „gebellten Sprache“. Noch heute ist das zu hören in den B-Movies des amerikanischen Films. Lange hat dann eine Sprachscham den Umgang mit der deutschen Sprache geprägt. Erst allmählich entwickelte sich wieder ein natürliches Verhältnis.
Heute sehen wir die deutsche Sprache wieder auf Erfolgskurs. Ich kann das als Präsident des Goethe-Instituts gut beurteilen. Die Sprache Deutsch, die 100 Millionen Europäer als Muttersprache beherrschen und noch einmal so viele als Fremdsprache gelernt haben, erfährt derzeit durch große Sprachoffensiven des Goethe-Instituts eine Renaissance. In den letzten drei Jahren wurden in 500 ausländischen Schulen deutsche Sprachabteilungen eingerichtet, die Deutsch bis zur Hochschulreife vermitteln; in China, Indien, Russland und Afrika wurden Sprachlernzentren gegründet. In Russland startet derzeit eine landesweite Kampagne für Deutsch. Eine gelungene Sprachpolitik Deutsch ist das beste Konjunkturprogramm für Deutschland.
Voraussetzung für eine zukunftsorientierte Gesellschaft in Deutschland sind qualifizierte deutsche und in zunehmendem Maße auch ausländische Arbeitnehmer in den unterschiedlichsten Berufsgruppen. Zur Zeit ist Deutschland eher ein Abwanderungsland als ein Zuwanderungsland. Dramatisch sieht es dabei bei den Hochqualifizierten aus. Das Goethe-Institut bereitet Studierende und Wissenschaftler inzwischen in vielfältiger Weise auf den Wissenschaftsstandort Deutschland vor und fördert die sprachliche Vorbereitung auf eine Berufstätigkeit.
Bei der Integration der Migranten haben wir wohl in der Vergangenheit einiges falsch gemacht. Erst spät wurde akzeptiert, dass es sich eben nicht um Gastarbeiter handelt, die wieder zurück in ihre Ursprungsländer gehen, sehr spät wurde auch erkannt, dass der Multikulturalismus in eine Sackgasse mit Parallelgesellschaften führt, die durch Wegschauen und Gleichgültigkeit gekennzeichnet sind. Heute weiß man und unterstützt das mit Nachdruck, die deutsche Sprache ist eine entscheidende Voraussetzung für die Integration. Integration beginnt bereits im Herkunftsland und muss in Deutschland weitergehen. Inzwischen gibt es längst Schriftsteller, Regisseure, Musiker und Künstler nichtdeutscher Herkunft, die sich ganz selbstverständlich als Teil der deutschen Kultur betrachten. Dem Adelbert-von Chamisso-Preis kommt beim Erkennen solcher Talente eine große Bedeutung zu. Von Chamisso war ein Weggefährte im Exil von Hoffmann von Fallersleben. Und auch Hoffmann von Fallersleben selbst hat zu seiner Zeit mit großem Interesse und persönlichen Bekanntschaften die Beziehungen zu Ausländern gepflegt. Die deutsche Sprache ist Teil unseres Kanons. Deshalb sollten wir sie vor unserer eigenen Gleichgültigkeit schützen. Ein wenig mehr Leidenschaft ist angebracht, sie ist es wert. Sie bleibt aber auch Kanon der Deutschen, wenn sie durch die Ausdrucksfähigkeit Zugewanderter bereichert wird.
Goethe hat dazu folgendes bemerkt:
„die Muttersprache zugleich reinigen und bereichern ist das Geschäft der besten Köpfe. Reinigung ohne Bereicherung erweist sich oft als geistlos; denn es ist nichts bequemer als von dem Inhalt abzusehen und auf den Ausdruck passen. Der geistreiche Mensch knetet seinen Wortstoff, ohne sich zu bekümmern, aus was für Elementen er bestehe; der geistlose hat gut rein Sprechen, da er nichts zu sagen hat. Poesie und leidenschaftliche Rede sind die einzigen Quellen, aus denen dieses Leben hervordringt, und sollten sie in ihrer Heftigkeit auch etwas Bergschutt mitführen, er setzt sich zu Boden, und die reine Welle fließt darüber her.“
Deutschland hat in der Vergangenheit bewiesen, dass es eine große Integrationskraft mobilisieren kann. Daran sollten wir uns in der aktuellen Debatte erinnern. Die Grünen-Politikerin Ekin Deligöz hat kürzlich gesagt, so sehr habe sie um die deutsche Staatsbürgerschaft gekämpft, dass sie nun auch die deutsche Hymne mitsingen wolle. Ich glaube, das würde den großen Freiheitspoeten Hoffmann von Fallersleben freuen.