18. Rede: Prof. Dr. Hubert Wolf
18. Hoffmann-von-Fallersleben-Rede 2022
am Sonntag, den 1. Mai 2022, 11 Uhr
im Kaisersaal von Schloss Corvey
Einigkeit und Recht und Freiheit
Für das deutsche Vaterland!
Danach lasst uns alle streben
Brüderlich mit Herz und Hand!
Einigkeit und Recht und Freiheit
Sind des Glückes Unterpfand
Blüh im Glanze dieses Glückes,
Blühe, deutsches Vaterland!
Ohne Zweifel ist das der wirkmächtigste Text aus der Feder von August Heinrich
Hoffmann von Fallersleben. Einigkeit und Recht und Freiheit sind in der Tat die
entscheidenden Werte, auf denen nicht nur unser deutsches Gemeinwesen, son-
dern auch Europa und die ganze Weltordnung seit dem Zweiten Weltkrieg basie-
ren. Nichts hat uns schmerzlicher vor Augen geführt, was passiert, wenn diese
Werte mit Füßen getreten werden, als der unsägliche Angriffskrieg Putins und
Russlands gegen die Ukraine. Nichts hat uns aber auch nachdrücklicher gezeigt,
wozu Menschen und Völker in der Lage sind, die sich diesen Werten mit Herz
und Verstand verschrieben haben, wie die ukrainischen Frauen und Männer, die
dem Aggressor mutig und einig widerstehen. Sie wissen, welch hohes Gut die
Freiheit ist, die sie mit allem, was sie haben, verteidigen.
Hoffmann von Fallersleben, der wegen seiner Sehnsucht nach Einigkeit und Recht
und Freiheit verfolgt wurde und nach langen Jahren der Heimatlosigkeit hier in
Corvey eine neue Heimat gefunden hat, würde den Ukrainerinnen und Ukrainern
ohne Zweifel seinen höchsten Respekt zollen.
Wir sollten uns heute an seinem Gedenktag an seine Seite stellen: Einig mit den
Menschen der Ukraine, die nichts anderes wollen als in Freiheit zu leben und
selbst über ihre Zukunft und die ihres Gemeinwesens zu entscheiden, verbunden
mit ihnen durch eine gemeinsame Überzeugung von Recht und Gerechtigkeit, be-
reit zu Solidarität, etwa um den Geflüchteten Heimat und Nähe zu geben oder
Studierende aus der Ukraine, aber auch aus Russland, in die Lage zu versetzen,
ihr Studium an meiner Universität in Münster weiterzuführen. Dafür sind Ihre
Spenden und mein Preisgeld bestimmt, als ein kleines Zeichen dafür, dass diese
Werte für uns nicht nur Worte sind, sondern für eine entschiedene Haltung stehen.
Aus dieser heutigen Erfahrung heraus verstehen wir vielleicht nicht mehr unmit-
telbar, warum Bundespräsident Theodor Heuss so lange zögerte, bevor er die
dritte Strophe des „Deutschlandliedes“ 1952 schließlich doch zur Nationalhymne
der Bundesrepublik Deutschland machte. Der Missbrauch der ersten beiden Stro-
phen durch die Nationalsozialisten, die damit ihren furchtbaren Eroberungskrieg
und die Ermordung von Millionen unschuldiger Menschen – gerade auch in Polen
und der Ukraine – rechtfertigten, hat dabei sicher eine nicht unerhebliche Rolle
gespielt.
Der Versuch von Theodor Heuss, eine neue, politisch unbelastete Hymne zu
schaffen, war mit Pauken und Trompeten gescheitert. Rudolf Schröders Verse, in
denen Deutschland als „Land des Glaubens“, „Land der Hoffnung“ und „Land der
Liebe“ gefeiert wurde und der damit die drei theologischen Tugenden ins Zentrum
der Nation gestellt hatte, „das war selbst für fromme Seelen in zerknirschten
Nachkriegszeiten eine zu kühne Vorstellung“, wie Hans Maier treffend bemerkt
hat. „Theos Nachtlied“, auch als „schwäbisch-protestantischer Nationalchoral“
verspottet, konnte sich gegen Haydns eingängige Musik und Hoffmann von Fal-
lerslebens starken Text mit seinen liberalen Grundwerten nicht durchsetzen.
Allzu einfache theologische Deduktionen und schnelle kirchliche Vereinnahmun-
gen verbieten sich von selbst beim „Nachdenken über Deutschland“, ausgehend
von Hoffmann von Fallersleben und seinem „Lied der Deutschen“, das mir als
katholischem Kirchenhistoriker von Ihnen heute als Thema gestellt wurde. Zu-
sätzlich sollte – so eine weitere Vorgabe – gerade in diesem Jahr, in dem sich die
Gründung der bedeutenden Benediktinerabtei hier in Corvey zum 1.200. Mal
jährt, der besondere Genius loci dieses Weltkulturerbes der UNESCO und seiner
Bibliothek nicht aus dem Blick verloren werden. Wer aber im Zusammenhang mit
Hoffmann von Fallersleben Corvey sagt, der darf Herzog Victor I. von Ratibor,
den Herrn von Corvey, nicht vergessen. Denn dieser liberale Katholik war es, der
dem von reaktionären Preußen 1842 seines Amtes enthobenen Professor und für
vogelfrei erklärten Dichter seit 1860 hier Auskommen, Heimat und eine adäquate
Wirkungsstätte bot.
Aus diesen Vorüberlegungen ergibt sich als Ausgangspunkt meines „Nachden-
kens über Deutschland“ für die Rede ein Dreieck mit folgenden Ecken:
- Hoffmann von Fallersleben, der Dichter und Forscher, der sich nach der
Volksliedtheorie als Sprecher des deutschen Volkes und seiner Sehnsucht
nach einem einheitlichen, freiheitlichen deutschen Rechtsstaat verstand.
Er soll zugleich in meinen Überlegungen für den Grundwert „Recht“ ste-
hen. - Victor I. von Ratibor, der als liberaler Katholik die Erfindung eines ultra-
montanen Einheitskatholizismus im 19. Jahrhundert strikt ablehnte und ei-
nen heute oft vergessenen alternativen Katholizismus repräsentiert, der
Kirche und Moderne, Glauben und Wissen, Religion und Aufklärung für
grundsätzlich kompatibel hielt. Er soll für den Grundwert „Freiheit“ ste-
hen. - Benedikt von Nursia, der als Gründer des abendländischen Mönchtums
dafür Sorge trug, dass die Abtei Corvey wie viele andere Klöster des Be-
nediktinerordens zu einem Ort der Bewahrung und Weitergabe von Glau-
ben und Kultur wurde, und deshalb als Patron Europas und der Werte, die
gemeinhin damit verbunden werden, gilt. Er soll für den Grundwert „Ei-
nigkeit“ stehen.
1. Recht: Hoffmann von Fallersleben und die Grundlagen des modernen
Verfassungsstaates
Schauen wir zunächst etwas genauer auf Hoffmann von Fallersleben und sein
„Lied der Deutschen“. Zwar studierte er zunächst in Göttingen evangelische The-
ologie, aber rasch führte sein Weg über die Archäologie und klassische Philologie
zu seinem Lebensthema der „vaterländischen Studien“. Dahinter verbarg sich im
Grunde ein neues Fach: die Germanistik. In dieser Disziplin ging es nicht mehr
darum, die griechische und römische Antike wiederzuentdecken, sondern verges-
sene Höhepunkte der deutschen Sprach-, Literatur- und Kulturgeschichte aufzu-
spüren sowie entsprechende Quellen zu finden und zu edieren. Daher standen vor
allem deutsche Kinder-, Volks- und Kirchenlieder im Mittelpunkt seines Interes-
ses. 1829 wurde Hoffmann von Fallersleben zum Professor für Germanistik in
Breslau ernannt. Seine Ablehnung der zunehmenden Restauration in Deutschland
und seine Sehnsucht nach einem liberalen Rechtsstaat wurden immer größer. Auf
die Amtsenthebung der Göttinger Sieben 1837 reagierte er ziemlich heftig mit
einem Gedicht unter dem sprechenden Titel „Knüppel aus dem Sack“:
Von all den Wünschen auf der Welt
nur einer mir anjetzt gefällt
KNÜPPEL AUS DEM SACK!
Und gäbe Gott mir Wunschesmacht,
ich dächte nur bei Tag und Nacht
KNÜPPEL AUS DEM SACK!
Ich schaffte Freiheit, Recht und Ruh,
und frohes Leben noch dazu
beim: KNÜPPEL AUS DEM SACK!
…
Oh, Märchen, würdest Du doch wahr,
nur einen einzigen Tag im Jahr
KNÜPPEL AUS DEM SACK !
Ich gäbe drum, ich weiß nicht was,
und schlüge drein ohn’Unterlaß
KNÜPPEL AUS DEM SACK !
Aufs Lumpenpack! Aufs Hundepack!
Hier klingen mit Freiheit und Recht bereits entscheidende Motive an, die im
„Deutschlandlied“ wiederkehren sollten. 1837 erscheint Hoffmann von Fallersle-
ben die Situation wirklich zum „Dreinschlagen“ gegen die Willkür der Fürsten.
Sie und niemand anderes sind mit dem „Lumpenpack“ und „Hundepack“ gemeint,
die das Recht mit Füßen treten.
In den „Unpolitischen Liedern“ von 1840 und 1841, die dezidiert politisch ge-
meint sind, führt er diese Linie fort. Sie stellen „die erste energische und uner-
müdlich erneuerte Opposition“ gegen den obrigkeitlichen Willkürstaat „durch po-
litische Lyrik“ dar und finden im 1842 entstandenen „Lied der Deutschen“ einen
vorläufigen Höhepunkt. Im selben Jahr wird Hoffman von Fallersleben aufgrund
aufrührerischer Umtriebe ohne jede finanzielle Absicherung aus dem Staatsdienst
entlassen.
Aus diesem historischen Entstehungskontext ist hoffentlich klar geworden: Auch
die ersten beiden, von den Nationalsozialisten diskreditierten Strophen des „Lieds
der Deutschen“ hatten ursprünglich nichts mit einem extremen Nationalismus o-
der gar Chauvinismus zu tun. Sie waren dezidiert nicht nach außen gegen andere
Völker gerichtet. Es handelte sich vielmehr um einen Weckruf nach innen: Das
ganze Deutschland, alle deutschen Frauen und Männer, die gesamte deutsche Kul-
tur und Sprache, müssen von unten her die Nation begründen. Nicht der Wille von
Fürsten oder Dynastien, nicht ein abgehobenes Gottesgnadentum konstituiert
Deutschland, sondern grundlegende allgemein verbindliche Werte wie Einigkeit
und Recht und Freiheit.
Doch was diese Werte im Einzelnen genau bedeuten, lässt Hoffmann von Fallers-
leben offen. Eine starre ontologische oder gar naturrechtliche Interpretation wäre
auch nicht in seinem Sinne gewesen. Diese Werte besitzt man nicht ein für alle
Mal, weder in einer geschriebenen Verfassung noch in einer Hymne. Man muss
vielmehr immer wieder neu nach ihnen streben, „mit Herz und Hand“. Sie müssen
im liberalen Staat, der auf dem Wert des Rechts basiert, immer neu Ereignis wer-
den durch das Engagement seiner Bürgerinnen und Bürger. Dabei steht nichts we-
niger als das Glück und Heil jedes einzelnen Menschen, aber auch das Glücken
des Experiments der freiheitlichen demokratischen Ordnung als solcher zur Dis-
position.
Wie fragil diese Rechtsordnung ist, zeigt nicht zuletzt die tiefe Krise, in der sich
das „liberale“ Modell weltweit befindet. Totalitarismen aller Art feiern in erschre-
ckender Weise überall fröhliche Urständ – nicht selten verbrämt durch religiös-
fundamentalistische Motive. Aber der Blick über den Atlantik auf ein Kernland
der Demokratie ist nicht weniger erschreckend. Die Erstürmung des Kapitols im
Anschluss an eine Rede des abgewählten Präsidenten zeigt, wie auch hier Recht
mit Füßen getreten wurde. Der Sturm auf das Reichstagsgebäude in Berlin zeigt,
dass auch in unserem eigenen Land der Rechtsstaat sich zunehmend infrage ge-
stellt sieht. Das über viele Jahrzehnte bewährte gemeinsame Wertefundament
scheint zu zerbröckeln. Und der alte, eigentlich selbstverständliche Grundsatz,
dass meine Freiheit ihre Grenze an der Freiheit der anderen findet, gilt nichts mehr
in Zeiten von Verschwörungstheorien und sogenannten alternativen Wahrheiten,
wie uns die Corona-Pandemie und der Umgang mit ihr in brutaler Weise zeigt.
Fünfundsiebzig Jahre Leben in einer verlässlichen Rechtsordnung, die Frieden
und Freiheit in Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern garantiert
haben, waren nicht selbstverständlich und sind es auch heute nicht, wie wir nicht
erst seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine, sondern bereits seit den Jugo-
slawienkriegen zur Kenntnis nehmen müssen.
Das führt uns zu der Frage, wie unser Rechtsstaat gestärkt werden kann und was
wir – jeder und jede von uns – dafür tun können. Dabei kann uns vielleicht eine,
erstmals 1964 von dem späteren Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Bö-
ckenförde formulierte und seitdem viel diskutierte, Hypothese helfen. Sie lautet:
„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst
nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen,
eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich
die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen
Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Ander-
seits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit
den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen,
ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen
Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkrie-
gen herausgeführt hat.“
Der moderne Rechtstaat, für den Hoffmann von Fallersleben sich so vehement
eingesetzt hat, basiert demnach auf Voraussetzungen, die er sich selbst nicht
schaffen kann.
Vor allem zwei Argumente wurden gegen die Böckenförde-Hypothese immer
wieder ins Feld geführt: Zum einen wurde prinzipiell bestritten, dass der Verfas-
sungsstaat Werte, die dem demokratischen Konsens vorausliegen, überhaupt
braucht. Vielmehr könne der liberale Staat sich diese Grundlagen selbst schaffen
und immer wieder den neuen Bedürfnissen anpassen. Dann stellt sich jedoch die
Frage, ob nicht sogar die entscheidende Grundlage des Rechtsstaats, nämlich die
Menschenwürde und die sie garantierenden Grundrechte, jederzeit geändert oder
gar aufgehoben werden könnten, wenn es für sie gerade keine Mehrheit gäbe.
Die zweite Kritik zielt in eine andere Richtung: Hier wird zwar zugegeben, dass
der moderne Staat auf Werten und Überzeugungen beruhe, die er sich selbst nicht
schaffen könne, dem Katholiken Böckenförde aber zumindest implizit unterstellt,
er gehe selbstverständlich davon aus, die Kirchen und speziell das Lehramt der
katholischen Kirche seien die natürlichen Garanten von „ewigen“ Werten und
Wahrheiten, die die Grundlagen des säkularen Staates bildeten, weshalb der Staat
die Kirchen und Religionsgesellschaften als Wertestifter in besonderer Weise för-
dern müsse.
Diesen einlinigen Zusammenhang hat Böckenförde freilich nie hergestellt. Er
ging bewusst nie so weit wie etwa der Philosoph Jürgen Habermas, der in seiner
Rede vom „sakralen Komplex“ den Kirchen eine unverzichtbare sozialintegrative
Rolle zuschreibt und sie dafür in Anspruch nehmen will, dem Prozess einer stän-
digen Desintegration, der den modernen Staat mehr und mehr bedroht, durch im-
mer neue „Solidaritätsressourcen“ entgegen zu wirken. Die Gefahr eines solchen
Unterfangens war dem liberalen Katholiken Böckenförde angesichts von Religi-
onen, die wegen ihrer unbedingten, absoluten und transzendent begründeten
Wahrheits- und Machtansprüche zu Hierokratie und Totalitarismus tendieren,
durchaus bewusst, wie die Äußerungen des Patriarchen Kyrill zur Rechtfertigung
des russischen Überfalls auf die Ukraine drastisch vor Augen führen: Ein heiliger
Krieg zur Verteidigung der christlichen Werte gegen das Gift des westlichen Li-
beralismus. Böckenförde kannte sie aus der Geschichte seiner eigenen Kirche nur
zu gut.
Das päpstliche Lehramt hatte nämlich seit der Französischen Revolution nicht nur
den modernen Rechtsstaat als solchen, sondern auch all die Werte, auf denen er
beruht, über fast zwei Jahrhunderte hinweg in Bausch und Bogen verdammt. Hier
seien nur die wichtigsten Meilensteine des römischen „Damnatur“ genannt:
Pius VI. verurteilte am 10. März 1791 feierlich die Erklärung der Menschenrechte.
Die „schrankenlos gebietende Volkssouveränität“ als Grundwert des modernen
Rechtsstaates wurde entschieden verworfen, das Freiheitsprinzip als „absurdis-
simum“ verdammt, die Behauptung einer angeborenen Freiheit und Gleichheit al-
ler Menschen sogar als „inanis“ (sinnlos) gebrandmarkt.
In seiner Enzyklika „Mirari vos“ vom 15. August 1832 wurde Gregor XVI. noch
deutlicher. Er lehnte die Forderung nach allgemeiner Gewissensfreiheit nicht nur
als „erronea sententia“ (irrige Meinung) ab, sondern bezeichnete sie sogar als
„diliramentum“ (Wahnsinn) und „pestillentissimus error“ (ganz verderblichen Irr-
tum). Als „Wegbereiter“ dieser Pestilenz sah der Papst „jene gänzliche und maß-
lose Meinungsfreiheit, die zum Verderben von Staat und Kirche weit verbreitet
ist“, an. Eindeutiger als Gregor XVI. kann man die Grundwerte des neuzeitlichen
Rechtsstaates, wie sie sich auch in Hoffmann von Fallerslebens dritter Strophe
finden, kaum mehr verwerfen.
Zu einem unbestreitbaren Höhepunkt der Verdammung von bürgerlichen Freihei-
ten, modernem Verfassungsstaat und Moderne insgesamt durch das päpstliche
Lehramt wurde aber der berühmt berüchtigte „Syllabus errorum“ Pius’ IX. von
1864, der eine Liste mit nicht weniger als achtzig modernen Irrtümer enthielt und
ein einziges Klagelied über die moderne Zeit und ihren Unglauben anstimmte. Die
falschen modernen Propheten verhießen Recht und Freiheit, seien aber Sklaven
des Verderbens. Wohin solche Ideen führen, hatte für den Papst das „schreckliche
Ungewitter“ der Revolution von 1848, welche für ihn zum Trauma wurde, ein-
deutig gezeigt, weil er in ihrem Verlauf zur Flucht aus dem Kirchenstaat gezwun-
gen worden war.
Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Volkssouveränität, demokra-
tische Staatsform und Religionsfreiheit wurden im Syllabus feierlich verurteilt,
Katholizismus und Moderne explizit für inkompatibel erklärt. Katholiken konnten
nicht zugleich Bürger eines modernen Rechtsstaates und Gläubige der katholi-
schen Kirche sein. Sie mussten sich entscheiden. Diese Linie der totalen Ableh-
nung der modernen bürgerlichen Werte, Rechte und Freiheiten durch die Päpste
lässt sich bis weit ins 20. Jahrhundert hinein verfolgen. Die Anerkennung der Ge-
wissens- und Religionsfreiheit in der Erklärung „Dignitatis humanae“, die das
Zweite Vatikanische Konzil am 7. Dezember 1965 verabschiedete, kam spät und
stellt einen Bruch mit der bisherigen Verdammungspraxis des kirchlichen Lehr-
amtes dar.
Alle Versuche, eine Kontinuität in der Anerkennung der Grundrechte durch die
Kirche zu konstruieren, stellen die historische Wirklichkeit geradezu auf den
Kopf. Insbesondere die Behauptungen kirchlicher Würdenträger, die katholische
Kirche sei stets Anwältin der Menschenrechte gewesen, ist strikt zurückzuweisen.
Damit fällt zumindest die Institution katholische Kirche als Lieferantin und Ga-
rantin der Voraussetzungen, auf denen der moderne Verfassungsstaat ruht, ohne
sie sich selbst schaffen zu können, weitgehend aus, hat sie diese Grundlagen doch
stets abgelehnt und auch heute zum Teil nur halbherzig anerkannt.
Mit Heinrich Heine möchte man ausrufen: „Denk ich an Deutschland in der Nacht,
bin ich um den Schlaf gebracht.“ Aber vielleicht kann man die gegenwärtige dra-
matische Situation auch als Weckruf verstehen, ganz im Sinne von Römer 13,11,
wo es heißt: „Die Stunde ist gekommen aufzustehen vom Schlaf.“ Wir alle sind
aufgefordert, uns der Prinzipien von Einigkeit und Recht und Freiheit, an denen
das Glücken des freiheitlichen Staates Bundesrepublik Deutschland und Europas
insgesamt nach Hoffmann von Fallersleben genauso hängt wie unser persönliches
Glück, neu zu versichern, mit Verstand, Herz und Hand. Es hängt an jedem und
jeder von uns, ob diese Werte sich auflösen in Zwietracht, Unrecht, Diktatur und
pseudoreligiösen Gewaltphantasien, oder ob sie in neuem Glanz erstrahlen. Wir
dürfen das Feld nicht gesellschaftlichen Verschwörungstheoretikern, religiösen
Fundamentalisten und politischen Radikalen überlassen. Unser Staat braucht uns
und unser Engagement als Bürgerinnen und Bürger für die ihn tragenden Werte,
und als Menschen, die an mehr als sich selber glauben. Von hier öffnet sich der
Blick dann doch noch einmal auf Ernst Wolfgang Böckenförde und sein Verständ-
nis von Katholizismus.
Das Ausfallen der Amtskirche als Garantin der Werte, auf denen der moderne
Rechtsstaat ruht, ohne sie sich selbst schaffen zu können, spricht nämlich keines-
wegs gegen die Böckenförde-Hypothese an sich. Vielmehr wird ihre Berechti-
gung angesichts der heutigen Situation immer deutlicher. Böckenförde hatte näm-
lich schon 1964 keineswegs das römische Lehramt als Wertelieferantin im Blick,
wie ihm unterstellt worden ist. Stattdessen hat er dessen Verhalten mehrfach ent-
schieden kritisiert. Er machte sich vielmehr schon damals für ein anderes Ver-
ständnis von Katholizismus stark.
Und historisch gesehen erweist sich die Annahme eines römischen Einheitskatho-
lizismus als monolithischem Block als Fiktion und Erfindung des 19. Jahrhun-
derts. Die insbesondere von „ultramontanen“ Autoren wiederholt propagierte,
feste, mit hohen Mauern gesicherte „Kirchenburg“ hat sich – historisch gesehen –
als Ammenmärchen erwiesen. Der Satz, den Paulus den Korinthern schrieb, „es
muss Parteiungen unter euch geben“ (1 Kor 11,19), sollte gerade im Gefolge der
Französischen Revolution im 19. und 20. Jahrhundert die katholische Kirche spal-
ten. Sie trennte sich in Katholiken, für die moderne Werte nach Schwefel rochen,
und Katholiken, die bürgerliche Freiheiten und Rechte grundsätzlich bejahten und
mit dem katholischen Glauben als kompatibel erachteten.
Und damit sind wir bei der zweiten Ecke unseres Dreiecks angelangt: bei Victor
I. von Ratibor und dem Grundwert der Freiheit.
2. Freiheit: Victor I. von Ratibor und der liberale Katholizismus
Für die Katholiken, die anders als das römische Lehramt und die Ultramontanen
den „Katholizismus als Prinzip des Fortschritts“ und der Freiheit (Hermann
Schell) betrachteten, steht bezeichnenderweise kein Geringerer als Herzog Victor
I. von Ratibor, der Herr von Corvey, der nicht nur Hoffmann von Fallersleben als
Bibliothekar aufnahm, sondern auch seinen Ideen Heimat bot. Herzog Victor war
ein liberaler Katholik und Bruder des freisinnigen Kardinals Gustav Adolf von
Hohenlohe-Schillingsfürst, der auf dem Ersten Vatikanischen Konzil 1870 die
Definition des Unfehlbarkeitsdogmas mit allem Nachdruck ablehnte, sowie Bru-
der des Gründers der liberalen Reichspartei, bayerischen Ministerpräsidenten und
späteren Reichskanzlers Chlodwig von Hohenlohe.
Die Hohenlohe-Schillingsfürst-Waldenburg und ihre Gleichgesinnten hielten Kir-
che und Moderne, die Werte des Glaubens und die Ideen des Liberalismus, das
Evangelium vom Befreier und Heilands Jesus Christus und das Evangelium der
Freiheit der Französischen Revolution für durchaus kompatibel. Für sie sollte Kir-
che – von einem geschichtlichen Denken inspiriert – stets auf der Höhe der Zeit
sein, sich je und je neu in die gegenwärtige Kultur einfügen und sich dabei der
Konkurrenz anderer Religions- und Deutungssysteme im pluralistischen Staat of-
fensiv stellen.
Diese liberalen Katholiken traten selbstverständlich für Menschenrechte ein. Sie
warben nicht nur für eine Freiheit der Kirche vom Staat, sondern auch für eine
Freiheit der Gläubigen in der Kirche. Kindlichen Gehorsam, wie von der Hierar-
chie gefordert, lehnten sie ab. Argumente statt Autoritätsgläubigkeit sollten für
wahre Katholiken künftig zählen. Liberale Katholiken hielten die katholische Kir-
che für grundsätzlich reformfähig und reformbedürftig: Abschaffung des Zwangs-
zölibats, Aufwertung synodaler Mitverantwortung, Muttersprache in der Liturgie
statt tridentinischer Messe waren nur einige ihrer Reformanliegen. Alle Wissen-
schaften sollten lege artis frei von kirchlicher Bevormundung betrieben werden.
Naturwissenschaftliche Erkenntnisse wie Heliozentrismus oder Evolutionstheorie
sollten ernstgenommen werden. Vor allem aber sollten liberale Katholiken den
modernen Staat bejahen und gegen alle lehramtlichen Verbote aktiv und produktiv
in diesem mitarbeiten.
Ich nenne hier als Beispiel für einen solchen dezidiert liberalen Katholiken nur
den mit den Hohenlohe-Brüdern eng verbundenen Freiburger Kirchenhistoriker
Franz Xaver Kraus. Dieser notierte zum „Syllabus errorum“ Pius’ IX. am 1. Ja-
nuar 1865 traurig in sein Tagebuch: Diese Enzyklika ist „gegen alle diejenigen
gerichtet, die seit einem halben Jahrhundert die moderne Welt mit der Kirche zu
versöhnen strebten, … gegen alle, die an die Möglichkeit glaubten, das Europa
des 19. Jahrhunderts könne wieder sich aussöhnen mit Rom … Die Feinde der
Kirche triumphieren über diese Zensur; denn sie haben nun, was sie wollten: den
Beweis, dass die katholische Kirche der Todfeind der Freiheit, der Wissenschaft
und des Fortschritts ist.“
Dieser alternative Katholizismus wurde von Rom konsequent verfolgt. Der Papst
verketzerte ihn regelmäßig als nicht mehr katholisch. Das böse Wort Pius’ IX.:
„Ein liberaler Katholik, ein halber Katholik“ war nicht zuletzt auf Victor von Ra-
tibor und seine Brüder gemünzt. Spöttisch fügte der Papst hinzu: Was könne man
bei einer Familie wie den Hohenlohe mit einer protestantischen Mutter und eben-
solchen Schwestern schon erwarten.
Auch in der katholischen Kirchengeschichtsschreibung wurde der liberale Katho-
lizismus entweder verteufelt oder totgeschwiegen. Die Meistererzählung vom un-
wandelbaren ultramontanen Einheitskatholizismus entstand. Die liberale Linie
reicht aber genauso wie die ultramontane ununterbrochen in die Gegenwart hin-
ein.
Dieser zweiten katholischen Strömung klebte man im Lauf der Kirchengeschichte
seit 1789 immer wieder neue Etiketten auf die Stirn – katholische Aufklärer, Jan-
senisten, Episkopalisten, liberale Katholiken, Modernisten oder eben Reformka-
tholiken – ihr inhaltliches Anliegen einer grundsätzlichen Kompatibilität des Ka-
tholizismus mit den Werten der Freiheit blieb aber identisch und zieht sich bis
heute durch.
Bezeichnenderweise wurde eine der großen Kontroversen zwischen diesen beiden
Katholizismen im Kontext der sogenannten Pillenenzyklika Pauls VI. „Humanae
vitae“ von 1968 auf dem Feld der Ethik geführt. Wie nicht anders zu erwarten,
ging es dabei um die Frage der freien und mündigen Entscheidung der Gläubigen
in Sachen Sexualmoral. Diese Freiheit wollten das Lehramt und die sogenannten
Glaubensethiker den Katholiken aber nicht zugestehen. Vielmehr verlangten sie,
dass diese sich an die sittlichen Normen der Heiligen Schrift, wie sie nur der un-
fehlbare Papst authentisch auslegen könne, zu halten hätten. Im Hintergrund stand
dabei ein statisch verstandenes Naturrecht.
Den ungeheuren Anspruch der Päpste, die Freiheit der Katholiken und des Staates
ganz selbstverständlich beschränken zu können, hatte Pius XI. 1931 noch einmal
bekräftigt. Es falle in die alleinige Kompetenz des Lehramts, „die von Gott Uns
anvertraute Hinterlage der Wahrheit und das von Gott Uns aufgetragene heilige
Amt, das Sittengesetz in seinem ganzen Umfang zu verkünden, zu erklären und –
ob erwünscht, ob unerwünscht – auf seine Befolgung zu drängen, unterwerfen …
wie den gesellschaftlichen, so den wirtschaftlichen Bereich vorbehaltlos unserem
höchstrichterlichen Urteil.“ Die Bewertung, ob ein Staat und die ihn tragenden
Werte dem göttlichen Recht entsprechen und er damit lehramtlich gesehen über-
haupt ein legitimer Staat ist, liegt diesem Anspruch nach allein in der Kompetenz
des Papstes. Die rein immanente beziehungsweise innerweltliche Begründung von
Recht wurde strikt abgelehnt. Damit war jeglicher moderner Verfassungsstaat mit
den entsprechenden Grund- und Freiheitsrechten undenkbar.
Aber auch das sittliche Verhalten und die persönliche Freiheit der einzelnen Bür-
gerinnen und Bürger wurden kompromisslos dem unterworfen, was die Kirche als
Naturrecht definierte. Den Gebrauch von Kontrazeptiva verwarf Paul VI. auf die-
ser Basis 1968 als der menschlichen Natur widersprechend, obwohl die überwäl-
tigende Mehrheit der vom Papst selbst eingesetzten römischen Kommission sich
für die sittliche Erlaubtheit der Pille ausgesprochen hatte. Nur die sogenannte „na-
türliche Temperaturmethode“ zur Feststellung der unfruchtbaren Tage der Frau
war erlaubt, was Julius Kardinal Döpfner, den „Sprecher der Mehrheit“, zu der
bösen Frage an Paul VI. motiviert haben soll, ob der Papst denn einen Baum
kenne, auf dem Thermometer wüchsen. Wenn ein Artefakt, sprich ein Thermo-
meter notwendig sei, die Temperatur beim Eisprung zu messen, könne es sich um
keine „natürliche“ Methode handeln. Besser kann man ein problematisches Na-
turrechtsverständnis kaum karikieren.
In einem pluralistischen Staat, in dem Menschen ganz unterschiedlicher religiöser
und weltanschaulicher Überzeugungen zusammenleben, können Werte und Nor-
men selbstredend nicht einfach vom Lehramt der katholischen Kirche für alle au-
toritativ verbindlich vorgeschrieben werden. Was sollte einen religiös nicht ge-
bundenen Menschen oder auch einen Protestanten motivieren, solchen Vorgaben
zu folgen? Doch nur plausible Argumente, die die Befolgung einer bestimmten
Norm als vernünftig und nützlich für einen selber und die Gemeinschaft auswei-
sen.
Deshalb müssen christliche Werte in den ständigen gesellschaftlichen Normfin-
dungsprozess aktiv eingebracht werden, um hier durch ihre Plausibilität zu über-
zeugen. Oder sie werden, wenn sie ohne Argumente nur autoritär behauptet wer-
den, schlicht scheitern.
Davon war zumindest der Moraltheologe Alfons Auer überzeugt, der im An-
schluss an die Ablehnung von „Humanae vitae“ durch den Großteil der deutschen
Katholiken seine theologische Ethik vom Kopf auf die Füße stellte und das Kon-
zept einer „Autonomen Moral im christlichen Kontext“ entwickelte. Er ging dabei
von der grundsätzlichen Geschichtlichkeit und Entwicklung sittlicher Werte und
Normen aus. Vor allem aber war er überzeugt, dass ethische Vorgaben vernünftig
begründbar sein müssten, nicht einfach autoritär behauptet werden dürften, und
die freie Zustimmung verlangten. Ihre Geltung hänge nicht von einer religiösen
Sanktionierung ab, die ohnehin nur für Teile der Bürger von Bedeutung sein
könne. Er nahm stattdessen – gestützt auf ein positives Menschenbild – eine
grundsätzliche Mündigkeit aller Rechtssubjekte und freie Zustimmung zu ent-
scheidenden Werten an. „Kindlichen Gehorsam“, wie ihn das kirchliche Lehramt
bis heute von den Gläubigen verlangt, sah er als absolut fehl am Platz an.
In weltethischer Hinsicht kommen für einen Katholiken keine neuen oder anderen
„spezifisch christlichen“ Normen zu den autonom entwickelten und rational als
plausibel begründeten sittlichen Weisungen hinzu. Die tragenden Werte eines
Staates, die er sich selbst nicht schaffen kann, werden also nicht von oben dekre-
tiert, sondern müssen von unten in einem fortwährenden Prozess der Verständi-
gung seiner Bürger immer neu begründet werden. Christen sind dabei von ihrem
Glauben her hoch motiviert, sich als gleichberechtigte Rechtssubjekte in diese
Wertedebatte aktiv einzumischen. Denn der christliche Glaube bietet in inhaltli-
cher Hinsicht zwar keine neuen sittlichen Postulate, eröffnet aber einen ganz an-
deren, wesentlich umfassenderen Sinnhorizont, sich für solche Werte einzusetzen.
Dieser spezifisch christliche Sinnhorizont motivierte aus Auers Sicht Katholiken
vor allem in zweifacher Hinsicht: Erstens: Christen müssen die Normen der „au-
tonomen Moral“ immer neu mit den christlichen Grundaussagen kritisch konfron-
tieren und im diskursiven Prozess gegebenenfalls auf eine Änderung von Normen
hinwirken, wenn diese die Würde des Menschen, die in seiner Gottesebenbildlich-
keit beruht, missachten. Sie können freilich in diesem Prozess auch unterliegen.
Zweitens: Christen müssen, was die Umsetzung der jeweils geltenden Werte an-
geht, stets ihre Vorläufigkeit und Unzulänglichkeit im Blick behalten. Sie können
deshalb denselben Normen wie alle Menschen folgen, dies aber aus der Kraft des
Glaubens mit einer neuen Motivation im Hinblick auf höhere Formen menschli-
cher Selbstverwirklichung tun.
Genau in diesem Sinne sollten wir meiner Ansicht nach die Böckenförde-Hypo-
these interpretieren und sie als Appell an unsere unverzichtbare Aufgabe als
Christenmenschen verstehen. Er hat sie nicht umsonst 1964 zum ersten Mal for-
muliert, als die katholische Kirche kurz davorstand, erstmals nach zweihundert
Jahren der Verdammung Gewissensfreiheit und andere Freiheiten als Grundrechte
zu akzeptieren. Dies schloss jeden direkten lehramtlichen Einfluss und jede natur-
rechtliche Begründung von Staat und Recht in Zukunft aus. Gerade in dieser Si-
tuation war der liberale Katholik Böckenförde überzeugt, dass der moderne Staat
auf Werten beruht, die er sich selbst nicht schaffen kann. Im Jahr 2006 präzisierte
er. „Der säkularisierte Staat ist heute und in Zukunft zunehmend auf vorhandene
und gelebte Kultur angewiesen, die eine relative Gemeinsamkeit vermittelt und
ein die staatliche Ordnung tragendes Ethos hervorbringt. Nun hat sich diese Kultur
nicht nur am Rande, sondern weithin aus bestimmten religiösen Wurzeln, aus da-
von geprägten Traditionen und Verhaltensweisen geformt. Diese sind ihr auch als
säkularer Kultur, die sie heute ist, noch inhärent, sei es als Ablagerungen, sei es
als gelebte Traditionsbestände.“
Angesichts des Auseinanderfallens unserer Gesellschaft, der zunehmenden Pola-
risierungen und Diskussionsverweigerungen sind wir als mündige und weltoffene
Christen gefragt, diese „Traditionsbestände“ zu aktivieren und als ständige Wer-
tetransfusion unserem Land zugänglich zu machen. Es gilt aber nur die Macht des
Arguments oder des in freier Entscheidung gelebten Beispiels. So sind, um nur
ein Beispiel zu nennen, die von der katholischen Soziallehre entwickelten Prinzi-
pien der Personalität, des Gemeinwohls und der Subsidiarität nicht deshalb über-
zeugend, weil sie vom Lehramt vorgetragen wurden, sondern weil sie von der Sa-
che her plausibel sind. Christenmenschen kommt deshalb eine unverzichtbare
wertebegründende und gesellschaftlich integrierende Funktion zu.
Sie können aber auch gezwungen sein, Wiederspruch anzumelden, wenn Grund-
werte, auch wenn sie kein christliches Etikett mehr tragen, massiv infrage gestellt
oder gar mit Füßen getreten werden. Wenn Mächtige ihre Völker unterdrücken,
müssen christliche Gemeinden ihrem biblischen Auftrag als Gegengesellschaft
gerecht werden: „Ihr wisst, dass die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken
und ihre Großen ihre Macht gegen sie gebrauchen. Bei Euch aber soll es nicht so
sein. Wer bei Euch groß sein will, sei der Diener aller.“ (Mt 20,25-26/Mk 10,42-
43). Das gilt zuallererst innerhalb der Kirche selbst. Nur dann kann sie ihre kriti-
sche Funktion im Sinne einer „gefährlichen Erinnerung“ (Johann Baptist Metz)
an die Botschaft und Praxis Jesu glaubwürdig wahrnehmen. Deshalb ist es umso
wichtiger, dass einzelne Christenmenschen ihre Stimme erheben, in einer Zeit, in
der unser Land seine Mitte zu verlieren droht. Wir können der Polarisierungsfalle
nur entkommen, wenn wir dazwischenfunken mit vernünftigen Argumenten, die
durch den Sinnhorizont unseres Glaubens eine besondere Motivation erhalten.
Sind wir so frei, das mit allem Nachdruck zu tun.
3. Einigkeit: Die Benediktinerabtei Corvey als Ort verbindender euro-
päischer Werte
Aber was für Deutschland gilt, gilt in vielleicht noch größerem Maße auch für
Europa und die Europäische Union. Sie befindet sich in einer tiefen Identitätskrise
und droht auseinanderzufallen. Der Brexit ist nur die Spitze des Eisbergs. Grund-
legende Werte werden in einzelnen Mitgliedstaaten schlichtweg ignoriert. Die EU
gleicht einem gigantischen finanziellen Verschiebebahnhof, auch wenn der An-
griff Putins auf die Ukraine und die dort verübten Kriegsverbrechen manchen po-
litisch Verantwortlichen vermeintlich aufwachen und umdenken lässt. Bleibt zu
hoffen, dass diese Wende nachhaltig ist und sich nicht als Strohfeuer erweist,
wenn es darum geht, den Preis dafür zu bezahlen, der auch zu persönlichem Ver-
zicht führen kann.
Der ehemalige Kommissionspräsident Jacques Delors scheint mit seiner Prophe-
zeiung vom 14. April 1992 leider recht behalten zu haben, als er formulierte:
„Wenn es uns in den kommenden zehn Jahren nicht gelingt, Europa eine Seele,
eine Spiritualität, einen Sinn zu geben, haben wir das Spiel verloren. Glauben Sie
mir: Nur mit seinen juristischen Fähigkeiten und seinem wirtschaftlichen
Knowhow wird Europa keinen Erfolg haben.“
Mit Formulierungen wie Sinn, Seele und Spiritualität sind wir wieder bei den Nor-
men und Werten angelangt, die sich Europa genauso wenig wie der neuzeitliche
Nationalstaat selber schaffen kann. Da Jacques Delors diese aber sehr deutlich
christlich inspiriert formuliert, ist der Weg zur dritten Ecke meines eingangs be-
schriebenen Dreiecks frei: zum Genius loci der hiesigen Benediktinerabtei Corvey
und der Idee, für die sie steht. So wie Hoffmann von Fallersleben in dieser Bibli-
othek Heimat und Auskommen fand, so braucht sein „Einigkeit und Recht und
Freiheit“ des „Lieds der Deutschen“ keinesfalls antieuropäisch ausgelegt werden,
was leider allzu oft geschieht. Vielmehr geht es in Deutschland und Europa um
dieselben verbindenden Werte und ihren zunehmenden Ausfall.
Für diese Werte steht hier in Corvey dezidiert Benedikt von Nursia und das auf
ihn zurückgehende benediktinische Mönchtum. Benedikt wurde am 24. Oktober
1964 von Paul VI. in einer bemerkenswerten Rede, die er aus Anlass der Wieder-
einweihung der im Zweiten Weltkrieg völlig zerstörten Abtei Montecassino hielt,
zum Patron Europas erhoben. Genau an diesem Ort hatte Benedikt seine berühmte
Klosterregel geschrieben. Der Papst sprach dabei Benedikt fünf Ehrentitel zu, die
seine Bedeutung für Europa unterstreichen: Pacis nuntius (Friedensbote), Unitatis
effector (Baumeister der Einheit), Civilis cultus magister (Lehrmeister von Zivi-
lisation und Kultur), Religionis Christianae praeco (Künder des christlichen Glau-
bens) und Monasticae vitae in occidente auctor (Gründer des abendländischen
Mönchtums).
Es fällt auf, dass nur die letzten beiden Titel etwas mit Religion und christlichem
Leben im engeren Sinn zu tun haben, während sich die ersten drei überraschender-
weise auf „weltliche“ Werte beziehen. Und was für Benedikt und seinen Orden
allgemein gilt, gilt speziell auch für Corvey. Die Abtei wurde 822 von Ludwig
dem Frommen natürlich als Ort des mönchischen Lebens und monastischer Fröm-
migkeit gegründet, und natürlich sollte sie als Missionsstation für den Norden des
Fränkischen Reiches dienen. Nicht umsonst sollte der heilige Ansgar von Corvey
aus zum Apostel Skandinaviens werden. Aber die Benediktiner hatten eine viel
umfassendere Aufgabe. Mitten in der Krise der Völkerwanderung und des Unter-
gangs des westlichen Imperium Romanum entstanden, wurden die Benediktiner-
klöster bald zu den entscheidenden Orten der Bewahrung abendländischer Kultur.
Das Christentum brauchte kulturelle Techniken wie Schrift und Kunst, aber auch
Philosophie als unverzichtbare Voraussetzungen einer Schrift- und Hochreligion.
Platon und Aristoteles wären genauso verloren gewesen wie medizinische Werke,
wenn sie nicht in den Bibliotheken der Benediktiner aufgehoben und in ihren
Skriptorien für die Weiterverbreitung in ganz Europa abgeschrieben worden wä-
ren. Hier wurden „heidnische“ Werte ganz selbstverständlich bewahrt.
Gleichzeitig trugen die Benediktiner aber maßgeblich zur Einheit des monasti-
schen Lebens in ganz Europa bei. Denn seit den Reformen Karls des Großen und
Benedikt von Anianes war es mit den unzähligen divergierenden monastischen
Regeln bald vorbei. Es gab nur noch eine einzige Klosterregel: die Benedikts von
Nursia, die sich durch eine besondere Ausgewogenheit und Lebbarkeit auszeich-
nete. Sie transportierte den Grundsatz einer grundsätzlichen Gleichwertigkeit aller
Menschen: „Ob Sklave oder Freigeborener: In Christus sind wir alle eins und tra-
gen unter dem einen Herrn die gleiche Last des Soldaten- und Sklavendienstes.“
Und den jüngeren Brüdern kommt bei den Entscheidungsprozessen eine entschei-
dende Rolle zu. Um Gottes Willen herauszufinden, soll der Abt stets auch die
Jüngsten um Rat fragen, „weil der Herr oft den Jüngeren offenbart, was das Bes-
sere ist“.
Aber die Einheit der Regel war kein starres Korsett, das die Klöster vor Ort daran
gehindert hätte, auf die Eigenarten der Landschaft und ihrer Menschen Rücksicht
zu nehmen. Im Gegenteil: Die una regula ermöglichte diversae consuetudines, die
Einheit der Regel implizierte eine Vielfalt von Gebräuchen und Anwendungen.
Man war sich in den Grundwerten völlig einig, konnte aber nach den Grundsätzen
der Epikie die Regel den Umständen entsprechend vor Ort in ganz Europa anwen-
den.
Hier scheint eine mögliche europäische Lesart von Hoffmann von Fallerslebens
„Einigkeit“ zumindest durch: Solange man sich in den Grundüberzeugungen einig
ist, kann es im Sinne der Subsidiarität durchaus zu vielfältigen legitimen Ausge-
staltungen kommen. Ein solches Konzept ist eine wesentliche Grundvorausset-
zung für den Frieden und die Freiheit in Europa. Hier könnte man aus der Ge-
schichte des bedeutendsten Ordens lernen, wenn man wollte: Einheit in Vielfalt
ist möglich, wenn die gemeinsame Basis stimmt.
Natürlich geht es aber auch hier nicht darum, Europa im Sinne eines christlichen
Abendlandes ein Wertefundament lehramtlich zu verordnen. Es geht vielmehr da-
rum, für diese christlich-benediktinischen Werte zu werben und zugleich auch an
die Geschichte der Europäischen Einigung nach der Katastrophe des Zweiten
Weltkriegs zu erinnern. Die Europäische Union stellt tatsächlich einen „Bruch mit
der europäischen Geschichte“ dar, weil es das „historisch gewachsene kulturelle
Wertegehäuse“ Europas „nie vermocht“ hat, „das politische Europa der Kriege zu
überwinden“ (Dieter Langewiesche).
Dieser „Bruch“ hat entscheidend mit den schwierigen Lernprozessen dreier ka-
tholischer Politiker zu tun, die aus den Grundüberzeugungen ihres Glaubens her-
aus versuchten, das Europa der Kriege zu überwinden, indem sie gemeinsame
christliche Werte beschworen: Robert Schumann, Alcide de Gasperi und Konrad
Adenauer. Sie waren dabei natürlich beeinflusst von der Idee eines christlichen
Abendlandes, das gerade nach 1945 in Theologie und Philosophie wiederentdeckt
wurde und das heute weitgehend als Konstrukt diffamiert wird. Sogar liberale Po-
litiker wie Bundespräsident Theodor Heuss waren von einem christlichen Huma-
nismus angeregt, der scheinbar unversöhnbare Pole wie Individualität und Ge-
meinwohl, Nationalstaat und Europa miteinander in Harmonie bringen konnte.
Für Heuss gab es drei Hügel, die die Identität Deutschlands und des Abendlandes
ausmachten: Golgotha, die Akropolis und das Kapitol.
Die Benediktiner in Corvey und anderswo haben dafür gesorgt, in ihren Skripto-
rien, ihren Bibliotheken und ihrer Liturgie, dass die Botschaft der drei Hügel und
die Idee der Einheit weitergegeben wurde von Generation zu Generation. Damit
steht nach wie vor ein einmaliger Wertefundus bereit, den es zu nutzen gilt, nicht
auf der Basis eines irgendwie gearteten Zwangs, sondern auf der Basis des besse-
ren Arguments.
Schluss
Die Sehnsucht Hoffmann von Fallersleben nach Recht und Gerechtigkeit in
Deutschland, der Einsatz liberaler Katholiken wie Victor I. von Ratibor für Frei-
heit im umfassenden Sinn und die Weisheit Benedikts von Nursia, der Einigkeit
als zentrales Gut erkannte: die drei Ecken des heutigen Nachdenkens über
Deutschland sind damit ausreichend beschrieben. Jetzt ist jeder von uns aufgefor-
dert, den Mittelpunkt dieses Dreiecks zu bestimmen und die entsprechenden Kon-
sequenzen zu ziehen. Der Krieg Russlands gegen ein Land in Europa wie die Uk-
raine und die Werte von Einigkeit und Recht und Freiheit, für die sie steht, machen
dies dringlicher denn je.
Ich schließe mit einem Zitat eines der bedeutendsten, zeitgenössischen Schriftstel-
lers der Ukraine, Jurij Andruchowitsch, der angesichts der Majdan-Revolution
von 2013/14 formulierte: „Wir lassen uns nicht einschüchtern. Gott sei Dank. Es
fügt sich alles zu einem großen Ganzen: Die Entscheidung für Europa, die Sou-
veränität des Landes, die Rechte und die Würde jedes Einzelnen. Es sind verschie-
denen Seiten ein- und derselben Sache. Wenn wir uns für Europa einsetzen, geht
es dabei auch um unsere Souveränität. Um die Menschenrechte und um die Frei-
heit. Das sind nicht nur schöne und naive Worte, das ist die nackte Wahrheit, die
bleibt.“
Diese Sätze sind heute aktueller denn je.