6. Rede: Prof. Dr. Arnulf Baring

6. Rede: Prof. Dr. Arnulf Baring

Prof. Dr. Arnulf Baring

6. Hoffmann-von-Fallersleben-Rede 2007

am Dienstag, dem 1. Mai 2007, 11.00 Uhr,
im Kaisersaal von Schloss Corvey

Durchlaucht,

verehrte Anwesende,

meine Damen und Herren,

liebe Landsleute!

Es ist eine große Ehre und eine ebenso große Freude für mich, heute zu Ihnen allen zu sprechen in der Erinnerung an jenen 1. Mai 1860, als Hoffmann von Fallersleben endlich in diesen Mauern eine Anstellung, eine Aufgabe fand, die ihm nach Jahren des erzwungenen Umherwanderns zur neuen Lebensmitte wurde. Es hat mich sehr berührt, gestern auf den Spuren seines Wirkens zu wandeln, ihn von hieraus neu kennen zu lernen.

Zugleich bin ich dankbar, dass ich der sechste und nicht der sechzigste Festredner bin. Warum? Die Veranstalter haben mir liebenswürdigerweise die Redetexte meiner Vorgänger als Hoffmann-von-Fallersleben-Redner zugänglich gemacht. Ich habe also studiert, was Roman Herzog, Klaus Kinkel, Peter Glotz, Marianne Birthler und Wolf Biermann in den vergangenen Jahren hier ausgeführt haben. Das ist gewiss hilfreich und nützlich, weil man auf diese Weise erfährt, was die Vorredner gesagt haben, also bei unserem Publikum als bekannt vorausgesetzt werden darf. Aber wenn ich mir nun vorstelle, dass im Laufe der kommenden Jahrzehnte noch viele Redner Hoffmann würdigen sollen, wird es immer schwieriger werden, etwas vorzubringen, was nicht bereits von anderen gesagt worden ist.

August Heinrich Hoffmann von Fallersleben war ein Mann der Freiheit, ein Liberaler des Vormärz, ein Mann des Wortes, der die Ereignisse durch seine Texte, seine Gedichte und Lieder begleitete und mitgestaltete. Ein Mann der Freiheit: das kann man bis zum heutigen Tage in unserem Lande gar nicht oft genug wiederholen, betonen, unterstreichen.

Denn die Deutschen tun sich mit der Freiheit schwer. Nicht auf den ersten Blick! Da werden alle die Freiheit zu preisen wissen. Fragt man unsere Landsleute, ob ihnen Freiheit wichtig ist, antworten sie selbstverständlich mit „Ja“. Hakt man jedoch genauer nach, beginnt das Freiheitspathos rasch zu verblassen. Vor vier Jahren untersuchte das renommierte Allensbacher Demoskopie-Institut grundlegend das Freiheitsverständnis der Deutschen. Man kam zu dem Ergebnis, der Wert der Freiheit habe seit den neunziger Jahren deutlich an Boden verloren. In allgemeinen Äußerungen, auf einer eher rationalen Ebene, bekenne sich die Bevölkerung zur Freiheit im Sinne von Handlungsfreiheit, Entscheidungsfreiheit. Doch im konkreten Konfliktsfall überwögen die Ängste vor den Risiken der Freiheit. Man spüre das Bedürfnis nach Absicherung durch einen fürsorglichen Staat. Der deutsche Sozialetatismus, eine auf den Feudalismus zurückgehende Erbschaft, die sehr verstärkt wurde durch die beiden deutschen Diktaturen, sorgt bis heute dafür, dass die Gleichheit, die soziale Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft einen höheren Stellenwert hat als die Freiheit und Selbstverantwortung des Staatsbürgers.

Wie tapfer, wie vorbildlich war demgegenüber Hoffmann von Fallersleben! Er verlor wegen seiner als staatsfeindlich eingestuften „Unpolitischen Lieder“ 1842 seine Breslauer Professur ohne jede Pension. Er bekam nicht einmal ein Wartegeld, jedenfalls nichts bis zur Amnestie vom März 1848, als ihm von da an 375 Taler jährlich zuerkannt wurden. In keinem anderen deutschen Staat, worauf die preußischen Behörden sorgsam achteten, durfte Hoffmann von Fallersleben eine neue Lehrtätigkeit aufnehmen. Jahrelang, auch nach der Amnestie, war er den Praktiken der Unterdrückung, Verfolgung und Ausweisung ausgesetzt. Immer wieder sah er sich neu zur Flucht, zu wechselnden Aufenthalten gezwungen. Erst zwölf Jahre später, achtzehn Jahre nach seiner Entlassung aus dem Amt, konnte er hier in Corvey Ruhe und Sicherheit finden.

Hoffmann war kein Politiker. Er blieb immer, von ganz wenigen Momenten abgesehen, ein Zuschauer am Rande. Er wurde nicht selbst politisch aktiv. Er hatte – und behielt – die Position eines Beobachters, freilich als solcher nicht still, sondern wirkungsmächtig mit Worten, mit denen er Einfluss suchte und fand: „Meine Waffe (schrieb er) war das Lied„. Im Gedicht, zumal im gesungenen Gedicht, im Lied, teilte er sich mit, und das in großer Nähe zum politischen Geschehen um ihn her. Sein politisches Urteil formte sich, schärfte sich – und das gilt vor allem für die Zeit nach seiner Amtsenthebung – im Umgang mit Politikern und Publizisten in Sachsen, in Mecklenburg, ganz besonders im Südwesten, im Raum Heidelberg-Mannheim. In Sachsen waren das etwa Robert Blum und Arnold Ruge, im Südwesten Karl Theodor Welcker, Friedrich Hecker und Adam von Itzstein. Aber auch Ausländer gehören hierher, etwa der gleichaltrige tschechische Historiker und Politiker Frantisek Palacký – das Interesse und die Beschäftigung mit anderen Völkern, nicht nur mit den eigenen Deutschen, prägt bekanntlich Hoffmanns ganzes Leben. Welcker schätzte Hoffmann von Fallersleben offensichtlich sehr, ließ ihn einen autobiographischen Beitrag für sein „Staats-Lexikon“ schreiben, den er mit einer schmeichelhaften Einleitung versah. Insgesamt verzeichnet Hoffmanns Tagebuch 51 Abgeordnete der Paulskirche, die er persönlich kannte. Von den 126 Mitgliedern des Frankfurter Vorparlaments kannte er 31, zwanzig von ihnen bereits in den Jahren vor der Revolution. Mit neun hatte er engere Beziehungen. Wir wissen, dass Hoffmann mit Männern wie Blum, Ruge, Welcker, Hecker und von Itzstein immer wieder im regen Gedankenaustausch stand, regelmäßig mit ihnen zusammen saß, gemeinsam speiste, bei einigen von ihnen, manchmal wochenlang, wohnte. Diese Gespräche haben zweifellos seinen politischen Horizont erweitert, sein Urteil gefestigt. Er war – und blieb – immer ein unabhängiger Geist, bildete sich ein eigenes Urteil. Hoffmann war durch und durch ein Mann der Freiheit und des Maßes, wie das Adalbert Stifter von sich selbst gesagt hat.

Hoffmann hatte für Theoretiker wenig übrig, ja verachtete sie. Er hatte frühzeitig Karl Marx persönlich kennen gelernt. Er ist 1849 mit Friedrich Engels aneinander geraten, dessen revolutionären Überschwang er, wie er sagte, „lächerlich, wahnwitzig“ fand. „Viele (schrieb er später in seiner Autobiographie), die sich berufen fühlten, einzugreifen in die Volksbewegung, waren außer Rand und Band gegangen, und statt aufzuklären, verwirrten sie sich und andere“.

Hoffmann war für die Revolution, aber nicht für diese Revolutionäre, weil er irgendwann auch in ihnen die „Philister“ entdeckte (sein Lieblingsausdruck für alle, die er aus ganzem Herzen ablehnte). Man hätte diese Entdeckung vielen Menschen wünschen mögen, ehe solche Leute langfristig viel Unheil über die Teile der Welt bringen konnten, in denen sie das Sagen hatten. Da Hoffmann durch und durch ein Liberaler war, konnte er mit den „communistischen und sozialistischen Ideen“ wenig anfangen, für die ihn etwa Ruge zu erwärmen versuchte. Ruge war für sie, nach Hoffmanns Urteil, „zu sehr eingenommen“. „Ich stand der Sache sehr fern (schrieb Hoffmann von Fallersleben später), hatte nichts darüber gelesen und mochte auch nichts lesen, das war mir viel zu langweilig.“

Wie er selbst politisch dachte, lässt ein Brief vom Jahre 1846 erkennen, in dem Hoffmann schrieb: „Ich bleibe lieber bei dem Erreichbaren stehen und halte es für menschenfreundlicher, etwas Gutes zu tun, als nur ewig und allein zu denken (diese deutscheste Eigenthümlichkeit!), dass und wie man das Einzig-Beste tun wolle, und dass alles nichts sei, wenn es nicht dies Einzig-Beste sei. Da die Kommunisten den ganzen Status quo, jede Form, unter der die jetzige Gesellschaft lebt, verwerfen, so befürchte ich, können sie leicht auch uns in unserm Fortschrittsstreben feindselig entgegentreten, wenn sie bei ihren allgemeinen Ideen sich bloß auf die Theorie beschränken.“

Wahre Worte, prophetische Worte. Aber Hoffmann war nicht nur ein Mann der Freiheit, ein großer Liberaler, sondern auch auf eine bis heute bewegende Weise ein Patriot.

Was ist Patriotismus? Der Begriff kommt von „patria“, Vaterland, und bedeutet die gemeinsame Verantwortung für eine territorial umgrenzte Gemeinschaft. In meiner Sicht schließt sie auch alle diejenigen Ausländer ein, die sich zu unserer Sprache, unserer Geschichte und Kultur bekennen, sich in sie integrieren. Ich glaube, es ist selbstverständlich, dass wir als Deutsche nicht nur diejenigen definieren wollen und können, die deutscher Abstammung sind. Wer zu uns kommt, auf Dauer bleiben möchte, darf, soll, ja muss – nicht sofort, sondern im Laufe der Jahrzehnte – zum Deutschen werden. Nur dann kann die Integration gelingen, die Entstehung einer isolierten – und damit latent feindseligen – Parallelgesellschaft verhindert werden.

Die wichtigste Frage, die wir Deutsche uns stellen müssen, lautet, ob wir eigentlich eine Nation sein wollen. Mich hat überrascht, dass dies seit 1990 nie diskutiert worden ist. Die Debatte über die Verlegung der Hauptstadt glich einer Art Schönheitswettbewerb zwischen Bonn und Berlin. Wenn man so argumentiert, versteht man nicht, weshalb Berlin diesen Wettbewerb gewonnen hat. Die Frage, was eine Hauptstadt für die Nation leisten muss – sie stellte sich nicht für die alte Bundesrepublik, die offenkundig keine Nation, sondern ein postnationales Gebilde war -, ist nie unter uns gemeinsam erörtert worden. Bis zum heutigen Tage ist ebenfalls unbeantwortet, was der Gesamtstaat für seine Hauptstadt zu tun bereit ist, bereit sein muss.

Das völlige Ausbleiben dieser Diskussion ist ein wichtiges Indiz dafür, dass die Deutschen bisher keineswegs entschlossen sind, eine Nation zu bilden. Damit bleibt offen, ob wir die mit der Nation verbundenen Anforderungen ohne Zögern erfüllen würden.

Was macht eine Nation aus? Ein bedeutender Franzose hat einmal gesagt: es kennzeichne die Nation, dass eine bestimmte Gemeinschaft von Menschen überzeugt sei, in der Vergangenheit Großes getan zu haben, und entschlossen sei, auch in Zukunft Großes zu tun. Wie groß das sein muss, was wir zu tun haben, wollen wir jetzt nicht diskutieren. Man darf nicht die falschen Gefahren fürchten. Wir Deutschen sind offensichtlich nicht mehr vom Größenwahn befallen. Die imperiale Phase unserer Geschichte war die Ausnahme von der Regel. Wir sind immer ein eher provinzielles, ängstliches Volk gewesen – und sind es wahrscheinlich heute wieder.

Es ist nicht richtig, überzeugt mich nicht, wenn manche sagen: wir wollen kein Pathos an der Macht. Der größte Mangel, an dem Deutschland gegenwärtig leidet, ist nach meiner Überzeugung die Abwesenheit positiver öffentlicher Emotionen. Die große Antriebsarmut, diese unglaubliche Reformunfähigkeit, die Tatsache, dass wir seit Jahrzehnten hilflos Probleme beschreiben, ohne sie beherzt anzupacken, obwohl sie durchaus lösbar wären, liegt meiner Ansicht nach an einer tiefen emotionalen Störung unseres Volkes. Mit diesem Thema möchte ich mich etwas näher beschäftigen.

Die Sicht der alten Bundesrepublik, wir seien ein postnationales Gebilde, lag deshalb vor 1989 nahe, weil wir den Nationalstaat, den wir früher gehabt hatten, damals nicht nur als verloren, sondern als von Anfang an falsch konstruiert empfanden. Wir waren gleichzeitig – nicht ohne Hochmut – in jenen Jahrzehnten der Meinung, wir hätten begriffen, dass das Ende aller europäischen Nationalstaaten gekommen sei, was andere europäische Völker allerdings noch nicht verstanden hätten. Wir seien da weiter als die anderen, die im Laufe der Zeit schon merken würden, dass Europa und nicht die Nation die richtige, zeitgemäße Antwort auf die geschichtliche Entwicklung sei. Keines unserer Partnerländer hat das geglaubt. Wir standen mit unserer Sicht der Dinge immer ziemlich allein.

Der zweite Grund, weshalb wir die Idee der Nation als erledigt betrachteten, war die Schuld, die Schande, die das Dritte Reich über die Deutschen gebracht hat – für mein Gefühl der Hauptgrund, warum wir emotional noch immer so gestört sind. Das war nach 1945 nicht von Anfang an so. Die beiden ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik sind nach meiner Meinung im Rückblick außerordentlich positiv zu bewerten. Unser Land war damals zum unglaublich raschen Wiederaufbau des Landes imstande. Weshalb war das so? Weil man alle Energien darauf konzentrierte, sich aus Not und Elend herauszuarbeiten, und die Frage einer deutschen Kollektivverantwortung für Hitlers Untaten noch beiseite ließ.

Das wurde in den sechziger Jahren anders, zumal nach 1968. Aber wie so oft in unserem Lande haben wir bei der Aufarbeitung der NS-Zeit übertrieben. Nicht nur jene zwölf Jahre, sondern die ganze deutsche Geschichte ist seither in einem Abgrund des Vergessens, ja der Verachtung verschwunden. Wenn ich heute als Historiker einen Vortrag zum Thema „Lehren der deutschen Geschichte“ ankündige, dann kann ich sicher sein, dass mindestens neunzig Prozent der Teilnehmer damit rechnen, einen Vortrag über das Dritte Reich zu hören. Vorher und nachher gab und gibt es offenkundig nichts, jedenfalls nichts positiv Erinnerungswürdiges.

Dieser Befund ist für mein Gefühl besorgniserregend. Ich würde unsere Lage mit dem Bild umschreiben, dass unterhalb der deutschen Eiche (dieser Metapher unseres Landes) in zwei Metern Tiefe horizontal eine dicke Betonplatte liegt, die die Republik daran hindert, sich in der Erde zu verwurzeln, so dass sie allen Gefahren künftiger Stürme ausgesetzt bleibt. Erst in sehr langen Zeiträumen wird es den Wurzeln des Baumes gelingen, um die Betonplatte herum zu wachsen. Unter uns wird niemand bezweifeln, dass die Platte nie verschwinden wird, die Erinnerung an die Untaten mit uns bleibt, so lange es Deutsche gibt.

Zu meinem großen Erstaunen hat Joschka Fischer immer wieder betont: Während die Grundlage der französischen Identität die Revolution von 1789 sei und die Engländer, ebenso die Amerikaner, sich auf ihre langen demokratischen Traditionen berufen könnten, sei das Fundament unserer Identität Auschwitz. Ich habe das immer für absurd gehalten. Kein Mensch und kein Volk kann psychisch überleben, wenn es sich nur aus katastrophalen Untaten herleitet. So wichtig es ist, sich der damaligen Verbrechen zu erinnern, so abwegig ist es, sie in den Mittelpunkt der eigenen Selbstdeutung zu rücken. Was also dann? Unser Land muss – ich glaube, das ist die Aufgabe, die vor uns allen liegt – in den nächsten Jahrzehnten, hoffentlich schon in den nächsten Jahren, sowohl die gelungenen Jahrhunderte deutscher Geschichte vor 1933 als auch die erfolgreichen Jahrzehnte nach 1945 in das eigene Selbstbild aufnehmen.

Ohne alle Übertreibung darf man behaupten, dass das, was die Deutschen nach 1945 geleistet haben, jedenfalls im Westteil, sich sehen lassen kann. Ebenso darf man mit ruhiger Selbstsicherheit daran erinnern, dass die Deutschen seit dem 18. und vor allem im 19. Jahrhundert zu den kulturell führenden Nationen Europas zählten, ja zu den zwei, allenfalls drei Leitkulturen der Welt.

Nur beschämt kann man heute konstatieren, wohin es inzwischen mit uns gekommen ist. Jetzt würde uns kein Mensch mehr unter die Leitkulturen der Welt rechnen. Wir haben sogar Mühe, uns davon zu überzeugen, dass wir von einer deutschen Leitkultur für die in unserem Lande Lebenden sprechen dürfen. Sich daran zu erinnern, dass dies einmal anders war, es besser um uns stand, bedeutet übrigens nicht, dass wir uns in irgendeiner Weise überheben oder uns rückwirkend unangemessen idealisieren.

Die Ereignisse des 11. September und seine Auswirkungen im Nahen Osten haben einen ganz neuen Ernst in unser Thema gebracht. Das haben wir vielleicht inzwischen wieder vergessen. Wir werden aber künftig möglicherweise ungleich stärker als bisher auf unser Land, sein Selbstvertrauen, seine Leistungskraft, seine Wehrhaftigkeit bauen müssen. Die vielleicht wichtigste Folge des neuen Terrors ist nämlich, dass die Europäische Union und die NATO, auch die Vereinten Nationen verblüffenderweise an Kraft und Zusammenhalt verloren haben.

Schon seit Beginn der neunziger Jahre haben kluge Köpfe darauf hingewiesen, dass die Jahrzehnte der Großräume und Blockbildungen trotz aller Globalisierung möglicherweise zu Ende seien. Das Staatensystem bildet sich offenbar zu jener Form internationaler, hoffentlich kultivierter Anarchie zurück, wie sie vor 1914 herrschte (freilich mit dem Unterschied, dass wir heute einen erneuten Weltkrieg hoffentlich nicht befürchten müssen). Diese neue, ganz alte Lage schließt natürlich eine geregelte Zusammenarbeit größerer oder kleinerer Kreise verwandter Staaten nicht aus. Ganz im Gegenteil legt die zunehmende ökonomische Verflechtung eine immer engere Kooperation nahe, ja zwingt zu ihr. Aber seitdem in Europa die übermächtig scheinende sowjetische Bedrohung verschwunden ist, bleibt die politische Einigung unseres Kontinents sichtlich stecken.

Seit dem 11. September sind die Institutionen gemeinschaftlichen Handelns in EU und NATO außen- und sicherheitspolitisch verblasst. Es zählen wesentlich nur noch – oder wieder – die Staaten. Diese Entwicklung wird Berlin stärker verunsichern als London oder Paris. Großbritannien und Frankreich, aber auch viele kleinere europäische Partner haben nach 1945 ihre eigenständige Handlungsfähigkeit nie bezweifelt, sahen sie nicht in Frage gestellt. Die Bundesrepublik hingegen dachte und agierte jahrzehntelang wesentlich gemeinschaftsbezogen. Daher hatten die Deutschen nach der Rückgewinnung ihrer Souveränität 1990 sichtlich Mühe, eigene nationale Interessen offen zu formulieren. Wir besitzen außerdem kein außenpolitisch geschultes, erfahrenes Führungspersonal, das anderen westlichen Staaten vergleichbar, ihnen gewachsen wäre. Es ist bestürzend, wie wenig einschlägige Experten in Regierung und Parlament zu finden sind. Das wird sich negativ auswirken. Die Deutschen sind auf die neue Lage noch immer überhaupt nicht vorbereitet.

Manche unserer Politiker, beispielsweise der damalige Bundeskanzler Kohl, wollten uns jahrelang einreden, die Notwendigkeit der europäischen Integration Deutschlands folge aus unserem unzuverlässigen Nationalcharakter. Daher sei eine europäische Währungsunion die Frage von Krieg und Frieden im 21. Jahrhundert. Es spricht nichts dafür, dass wir heute in politischen Fragen unzuverlässiger sind als andere Nationen. Diese häufig anzutreffende Fehldeutung hat keine Basis in empirischen Befunden. Sie erklärt sich aus unserem schreckhaften Charakter und aus der Tatsache, dass wir im Grunde den Absturz, den das Dritte Reich bedeutete, nie begriffen haben und nie begreifen werden. Natürlich musste eine solche Katastrophe unsere psychische Stabilität erschüttern, unser Selbstgefühl unterminieren. Bei ruhiger Betrachtung muss man aber sagen, dass nichts auf eine besondere Gewalttätigkeit, nichts auf einen sprungbereiten Machtwillen unseres Volkes hindeutet.

Was Europa im Augenblick mit den Deutschen erlebt, ist das Gegenteil des bei uns Befürchteten: wir bleiben weit unterhalb der Erwartungen unserer Partner und Nachbarn. Wir sind dabei, den umgekehrten Fehler zu machen wie vor hundert Jahren: Während wir uns damals den Anschein gaben, als wollten wir den ganzen Kontinent prägen und lenken, tun wir heute nicht genug, um im Maße des uns Möglichen Europa zusammenzuführen und voranzubringen, wobei zuzugeben ist, dass Angela Merkel ihr Bestes tut.

Mit anderen Worten: Wir Deutschen müssen uns mit dem Gedanken vertraut machen, die Zentralmacht Europas zu sein, eine führende Rolle zu haben. Natürlich nicht allein. Kein Mensch, der seinen Verstand beisammen hat, wird glauben, nur wir sollten in Europa den Ton angeben. Deutschland hat bewiesen, wie wenig es dazu berufen ist. Aber es kann keinem Zweifel unterliegen, dass wir zusammen mit unseren wichtigen Alliierten, aber auch mit den vielen kleineren Partnern, aufgefordert sind, eine dynamische, antreibende Rolle in Europa zu spielen.

Das gilt erst recht, wenn wir mit neuen Gefahren rechnen müssen. Der Nahe Osten ist ein explosiver Krisenherd. Und es ist ja keineswegs sicher, dass die terroristische Entwicklung seit den Anschlägen vom 11. September, seit Madrid und London gestoppt worden ist. Es kann sehr wohl sein, dass wir selber bedroht sind – nicht flächendeckend, nicht in der Form traditioneller Kriege, wie wir sie aus dem letzten Jahrhundert kennen, aber möglicherweise als jederzeit drohende Auslöschung eines jeden von uns. Es ist ganz unwahrscheinlich, dass wir alle umkommen. Aber es kann einen jeden unerwartet treffen, auf einem Bahnhof, einem Flugplatz, in Einkaufszentren, in Hochhäusern. Die neue Gefahr könnte zu einer religiösen Selbstvergewisserung in der Bevölkerung führen. Denn sie lässt uns an längst vergessene Kirchenlieder denken: „Mitten wir im Leben sind, mit dem Tod umfangen“, sangen Christen seit dem 15. Jahrhundert.

Was folgt aus alledem? Ich bin überzeugt, dass die emotionale Selbstlähmung der Deutschen, die Tatsache, dass sie sich so tief haben deprimieren lassen, unsere Landsleute daran hindert, das Notwendige zu tun: lange überfällige Reformen einzuleiten, die wir seit Jahr und Tag folgenlos diskutieren. Wir haben unsere Versäumnisse in den vergangenen Jahren immer wieder neu hin- und her gewendet. Die Veränderungen, die Konsolidierungsmaßnahmen, die unser Land benötigt, sind allgemein so geläufig, dass jeder hier im Raume sie mühelos aufzählen könnte, wenn er mitten in der Nacht geweckt würde. Sie werden aber wesentlich deshalb nicht angepackt, weil wir uns insgeheim keine eigene Zukunft gestatten. Deutschland hat seine Würde und Selbstachtung noch nicht zurück gewonnen. Dergleichen kann man natürlich nicht durch bramarbasierendes Gerede bewerkstelligen, sondern nur durch eine ruhige, sachliche Gesamtbilanz, die den katastrophalen Fehlschlag, den unsere Geschichte im letzten Jahrhundert erlebt hat, dadurch erträglich macht, dass man sich an Zeiten erinnert, die Deutschland in hellem Licht zeigen.

Die Rückgewinnung eines abgewogenen, vertrauensvollen Selbstbildes der Deutschen ist das eigentliche Thema, um das es mir geht. Denn nur dann, wenn uns die angedeutete Bewusstseinserweiterung gelingt, werden wir ein handlungsbereites, zuversichtliches, verantwortungsbewusstes Land werden, natürlich zugleich bescheiden und menschenfreundlich bleiben.

György Konrád hat vor einer Weile in einem anderen Zusammenhang gesagt, dass jedes Land der Symbole, der Rituale, gemeinsamer Festtage bedarf, um eine positive Meinung von sich selber zu entwickeln und zu bekräftigen. Bundeskanzler Schröder schien etwas Ähnliches vorzuschweben. Er überraschte seine Kollegen im Kabinett eines Tages mit dem Vorschlag, über positive Nationalfeiertage nachzudenken, weil wir bisher nur gemeinsame Trauertage hätten. Schröder hatte nicht immer so gedacht. Offenkundig spürte er, seit er im Amt war, immer stärker das Gewicht der Geschichte, ahnte das Verantwortungsgefühl, das aus ihr wächst. Aber vielleicht war das nur eine Hoffnung von mir, so wie ich jetzt Hoffnungen auf Angela Merkel setze.

Wie weit wir von einer ruhigen, demokratischen Erweiterung unseres Bewusstseins, unseres Selbstbewusstseins noch entfernt sind, kann jeder feststellen, der den Reichstag durchwandert. Da findet man in dem riesigen Gebäude nur zwei Schmuckelemente: einerseits eher düstere abstrakte Kunst, andererseits die russischen Graffiti des Kriegsendes, an denen man immer etwas gebeugt vorübergeht, weil man nicht weiß, was dort steht, vielleicht auch die Menge dieser Graffiti für übertrieben hält: es sind ganze Wände mit ihnen beschriftet. Natürlich sollen wir uns immer daran erinnern, dass wir russische Soldaten im Parlament riskieren, wenn wir außenpolitischen Unsinn machen. Aber einige Zitate sollten genügen.

Augenmaß, Sinn für geschichtliche Proportionen, wäre angebracht. Mit Fotoinstallationen unterhalb der Kuppel ist es nicht getan. Es fällt auf, dass im ganzen Gebäude nichts von all den Bemühungen und Leistungen zu sehen ist, die wir, spätestens seit 1848, also jetzt im dritten Jahrhundert, freiheitlich und demokratisch bewerkstelligt haben. Es müssten Erinnerungsstücke der Parlamentsgeschichte sichtbar sein, frühe Fahnen, Bilder von Sitzungen, Portraits bedeutender Politiker: Bebel und Windthorst neben Bismarck, Ebert neben Stresemann, Adenauer, Schumacher, Erhard, Heuss, Brandt und Schmidt.

Bisher müssen junge Leute, die durch dieses Parlamentsgebäude gehen, den Eindruck gewinnen, offenbar befinde man sich in einer früheren Fabrik oder Ausstellungshalle, in die ein Parlament erstmals 1999 eingezogen sei. In den Medien wird überraschenderweise nie darüber berichtet, nicht darüber geklagt, dass wir ein völlig kahles, erinnerungsarmes Parlamentsgebäude haben. Diese Vergesslichkeit tut uns nicht gut. Unsere demokratischen Traditionen sind nicht so reich, dass wir uns leisten könnten, mit ihnen so beiläufig, ja gleichgültig umzugehen, wie wir es tun.

Wir müssen ein emotional besseres Verhältnis zu uns selbst bekommen – natürlich keinen Hurra-Patriotismus, keinen exzentrischen Nationalismus der Vergangenheit. Sie drohen auch nicht. Wir müssen lediglich vergleichbar werden mit anderen Nationalstaaten; denn wir sind mit ihnen vergleichbar. Wir sollten von unseren Nachbarn lernen, wie sie mit sich selbst, ihrer Geschichte und Kultur umgehen. Wir sollten uns zumal von Frankreich inspirieren lassen, unsere Bejahung Europas und das Bekenntnis zur eigenen Nation in Übereinstimmung bringen – wie unsere Nachbarn auch. Wagen wir gelegentliches Pathos! Die Deutschen brauchen es.

Wir Deutschen sind ein gefühlvolles Volk. Man darf bei uns das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit nicht nur rational begründen. Es muss uns auch emotional nahe gebracht werden. Wir dürfen nie vergessen, dass die Weimarer Republik wesentlich deshalb zugrunde ging, weil sie nicht in den Herzen der Bürger verankert war.

Insofern schlage ich vor, dass wir künftig nicht nur hier, sondern auch bei anderen, feierlichen Gelegenheiten ganz im Sinne Hoffmanns von Fallersleben unsere gemeinsamen Überlegungen und Anstrengungen, unser Gemeinschaftsgefühl in dem Wunsch, in der Hoffnung zusammenfassen:

Es lebe die Freiheit!

Es lebe die Republik!

Es lebe Deutschland!