7. Rede: Prof. Dr. Marek Halub, Breslau
Prof. Dr. Marek Halub aus Breslau
7. Hoffmann-von-Fallersleben-Rede 2008
am Donnerstag, dem 1. Mai 2008, 11.00 Uhr,
im Kaisersaal von Schloss Corvey
Die vom Herzoglichen Haus Ratibor, der Stadt und dem Kreis Höxter sowie dem HVV Höxter mit Unterstützung der Volksbank Paderborn-Höxter-Detmold veranstaltete Hoffmann-von-Fallersleben-Rede im Kaisersaal zu Schloss Corvey wurde in diesem Jahr von Prof. Marek Halub, stellvertretender Direktor des germanistischen Instituts an der Universität Breslaus, gehalten. Nachfolgend die Rede von Prof. Halub im Wortlaut:
Durchlaucht,
Sehr geehrte Damen und Herren,
im Namen Hoffmanns von Fallersleben eine Rede im prunkvollen Kaisersaal von Schloss Corvey halten zu dürfen, ist für mich eine außerordentlich große Ehre, wofür ich Eurer Durchlaucht wie auch allen Organisatoren, vor allem Herrn Dr. Kurt Schuster und Herrn Michael Bludau vielmals danken möchte.
Lassen Sie mich, bevor ich zum Thema komme, eine Vorbemerkung zum Charakter und Aufbau meiner Rede machen. Bekanntlich stehen die Corveyer Hoffmann-von-Fallersleben-Reden unter dem Rahmenthema „Nachdenken über Deutschland“. Ich werde heute Zu den freundlich-feindlichen Wechselbeziehungen zwischen Deutschen und Polen an der Schwelle zum dritten Jahrtausend aus der Perspektive eines polnischen Hoffmann-von-Fallersleben-Forschers sprechen und dabei als Auslandsgermanist von außen auf Deutschland blicken. Wegen der verordneten Kürze meines Auftritts werde ich die uns allen wohl vertrauten positiven Entwicklungen im deutsch-polnischen Verständigungsprozess nicht wiederholt hervorheben, sondern statt dessen einige Probleme thematisieren. Eine schön geschminkte Fassadenrede, die aus Höflichkeit Streitobjekte tabuisierte, würde nota bene dem gesellschaftskritischen Hoffmannschen Blick kaum gerecht. Der Homo politicus Hoffmann hat mit seinen öffentlichen Auftritten meist sein ziviles Unbequemsein zum Ausdruck gebracht und dabei eine zündende Wirkung erzielt. Mit meinen bescheidenen Kräften vermag ich diesem hohen Anspruch des charismatischen Hoffmann selbstverständlich nicht gerecht zu werden. Ich versuche aber wenigstens einen kleinen Denkanstoß in drei Bereichen (Geschichte, Stereotype und Jugendarbeit) zu vermitteln.
I. Zur Geschichtsdebatte
Als Philologe darf und will ich mich im Bereich des Verhältnisses zwischen Berlin und Warschau ausschließlich auf den fachlichen Rahmen konzentrieren, in dem die Germanistik Kompetenz beanspruchen darf. Aus dieser Perspektive fällt immer wieder auf, dass sowohl polnische als auch deutsche Medien bei der Darstellung der heutigen Beziehungen zum Nachbarland vorwiegend Substantive wie Krieg, Kriegsbeute, Vertriebene, Versöhnungskitsch, Mauer in den Köpfen, Konflikt, Neurose, Spannung, Schuld, Dämonisierung, Leid, Eiszeit und Missverständnis in allen möglichen Kasus deklinieren.
Mit diesem Vokabular wird die historische Hypothek kritisch und nicht selten stark emotional angesprochen. An der Schwelle zum dritten Jahrtausend taucht die Vergangenheit im deutsch-polnischen Beziehungsgeflecht wie aus Pandoras Büchse immer wieder auf.
Obwohl das einige Überraschung auslösen mag, lässt sich gerade Hoffmann von Fallersleben mit der jetzigen deutsch-polnischen Geschichtsdebatte in Verbindung setzen.
Als Breslauer Universitätsprofessor und -bibliothekar hat sich Hoffmann u. a. um die Erforschung Schlesiens stark verdient gemacht, so dass er mit vollem Recht als Mitbegründer der schlesischen Kulturgeschichte gewürdigt werden kann. Ähnlich wie bei dem noch heute verminten Gelände der deutsch-polnischen Nachbarschaft traten beim Thema „Geschichte Schlesiens“ zu Lebzeiten Hoffmanns immer wieder verschiedene Tabuisierungen und zahlreiche, meist machtpolitisch und nationalistisch geprägte stereotype Vorstellungen hervor. Trotz starker politischer Instrumentalisierung hat er das plurikulturelle Erbe Schlesiens unvoreingenommen behandelt. So hat Hoffmann von Fallersleben z. B. die Verbindungen des Oderlandes mit dem Slawentum nie in Frage gestellt. Er betrachtete die slawische Komponente in der schlesischen Geschichte nie im abwertenden Sinne und beurteilte die einseitige Argumentation der Forschung seiner Zeit abschätzig:
Daß auch Schlesien in frühester Zeit ganz und gar slavisch war, bedarf gar keines Zweifels mehr; auch gereicht es einem Lande weder zur Ehre noch zur Schande, daß es einmal slavisch gewesen ist, obschon die gelehrten Schlesier aus einem mißverstandenen Patriotismus dies frühere durchweg slavische Wesen nicht zugeben wollten, und ihre Meinungen zu verschiedenen Zeiten gegen ein früheres schlesisches Slaventhum vertheidigt haben.
Das Ergebniß dieser Streitigkeiten hat gelehrt, daß weder die politische noch die Cultur-Geschichte unsers Vaterlandes aufgeklärt wurde, und daß sich auf diesem Wege über das ursprüngliche Gebiet der slavischen und der deutschen Sprache kein Aufschluß erlangen ließ.
Wer in die Fußtapfen Hoffmanns tritt, der empfahl, sich aus dem Korsett des mißverstandenen Patriotismus zu befreien, kann zu einem Durchbruch im deutsch-polnischen Streit um die objektive Aufarbeitung der Apokalypse des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgen beitragen. Der in den letzten Jahren auf besonders heikle Weise instrumentalisierte Gegensatz zwischen Geschichte und Gedächtnis kann in einem historischen Kausalzusammenhang und in einer internationalen Kontextualisierung aufgehoben werden. Der heftige Zwist um die geplante Dokumentationsstätte zur Vertreibung erweckte in Polen großes Misstrauen, wittert man doch an der Weichsel die Gefahr einer musealen Würdigung des eigenen Leids der deutschen Ausgesiedelten ohne Einbettung dieses Ereignisses in historische Zusammenhänge. Museal zu zeigen sind – aus polnischer Perspektive – u. a. alle Verbrechen, die im Zweiten Weltkrieg an Polen begangen wurden. Der Zweite Weltkrieg hat einen unerhörten Bevölkerungstransfer verursacht, infolge dessen z. B. in Schlesien, in dem Hoffmann die 20 erfolgreichsten Jahre seines Lebens verbracht hat, die Plätze der deutschen Vertriebenen von den polnischen Vertriebenen, darunter von meinen beiden Elternteilen aus der Lemberger Gegend, eingenommen wurden.
Meine Hoffnung auf die Entwicklung einer neuen Qualität in der bilateralen Gesprächskultur setze ich auf die Handlungsfähigkeit der polnischen und deutschen scientific community, die nach der Wende 1989 in zahlreichen sehr produktiven Kooperationen (Tagungen, wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Lehrmaterialien) Gemeinsamkeiten und Differenzen im Verständnis für unsere historische Identität und Erinnerungskultur thematisiert. Als einziges ausländisches Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa in Oldenburg darf ich hier etwa die äußerst effektive Kooperation der Oldenburger Wissenschaftler mit mehreren polnischen Partnern, darunter auch mit meiner Universität ausdrücklich betonen. Im Jahre 2007 wurde der Sonderpreis des Kulturpreises Schlesien des Landes Niedersachsen der Hoffmann-von-Fallersleben-Gesellschaft und der Breslauer Germanistik für ihre herausragende Zusammenarbeit zuerkannt. Während des im Oktober 2007 in meinem Institut gemeinsam organisierten Workshops „Hoffmann von Fallersleben als deutscher Erinnerungsort“ haben sich polnische Studenten mit Hoffmann nicht nur wissenschaftlich auseinandergesetzt, sondern auch seine Lieder eifrig gesungen. Kurz und gut: Nicht die Heimwehverbände sollen das Deutungsmonopol für die Vergangenheit haben, sondern ein wissenschaftlicher Diskurs mit sachlich begründeter Vorsicht. So wie einst der Universitätsprofessor Hoffmann von Fallersleben dagegen protestierte, Geschichte als Werkzeug der Politik zu behandeln, so bin ich davon fest überzeugt, dass die Ergebnisse der gemeinsamen deutsch-polnischen kulturhistorischen Forschungen sich endlich öffentlichkeitswirksam durchsetzen und das historische Bewusstsein in einem objektiven weltpolitischen Umfeld gestalten.
Angesichts dieser positiven Entwicklungen in der Auseinandersetzung mit dem realpolitisch belasteten Verhältnis zwischen Deutschen und Polen pflichte ich dem Ende 2007 formulierten Appell eines deutsch-polnischen Intellektuellenforums, der Kopernikus-Gruppe, mit allem Nachdruck bei, dass der Aufbau einer zukunftsorientierten deutsch-polnischen Partnerschaft nicht möglich ist, ohne dass eine Sprache des wechselseitigen Respekts gefunden wird, mit dem die Vergangenheit beschrieben werden kann.
Neben der Sprache des wechselseitigen Respekts sind m. E. auch wechselseitige Geschichtsbilder für beide Seiten von einer nicht zu unterschätzenden Relevanz. Die hier bereits angedeuteten geschichtlichen Bilder mit Blut und Panzern als Hauptmotiven sollen unbedingt und notwendiger Weise um die Szenen der Freundschaft und Zusammenarbeit ergänzt werden. Die positiven Segmente des breiten historischen Spektrums kommen in der heute so bitteren, oft zugespitzten Geschichtsdebatte eigentlich leider kaum zum Vorschein. Als polnischer Hoffmann-von-Fallersleben-Forscher darf ich öffentlich fragen: Wer assoziiert heute den Autor des oft nationalistisch missbrauchten poetischen Einigungsbekenntnisses Deutschland, Deutschland über alles mit einer polenfreundlichen politischen Einstellung? Wir sind gefordert, so Karl Dedecius, Spiritus movens des deutsch-polnischen Kulturdialogs in der ganzen Nachkriegszeit, die alten Wurzeln der Gemeinsamkeiten zwischen unseren Völkern wieder bloßzulegen, die positiven Elemente ans Licht zu heben und die vorhandenen negativen nicht noch zu multiplizieren, um Deutsche und Polen als europäische Nationen wieder zusammenzubringen.
Da kann ich mir beim heutigen Anlass die Gelegenheit nicht entgehen lassen, auf ein weitgehend unbekanntes Kapitel aus der deutsch-polnischen Geschichte hinzuweisen, das in die deutsche und polnische Geschichtsschreibung unbedingt Eingang finden sollte. Nach dem gescheiterten polnischen Unabhängigkeitskampf im Jahre 1830/31 bekräftigte Hoffmann von Fallersleben in seinen Memoiren sein Mitleid mit Polen mit folgenden Worten:
Das Schicksal Polens betrübte mich sehr.
Hoffmann von Fallersleben wusste sich aber auch als Dichter für Polen unerschrocken einzusetzen. Unter seinen Unpolitischen Liedern, mit denen er sich mit beißendem Sarkasmus gegen die feudal-absolutistischen Missstände in Preußen wandte, gibt es ein Gedicht unter dem Titel Großhandel, in dem der Dichter Preußen wegen der Teilungen Polens angegriffen hatte. Dafür musste der Dichterprofessor Hoffmann einen sehr hohen Preis bezahlen. Wegen der Veröffentlichung der Unpolitischen Lieder wurde er seiner Professorenstelle an der Breslauer Universität enthoben. Zur Begründung ihres präzedenzlosen Urteils nannten die preußischen Behörden die Titel der in ihren Augen gefährlichen Gedichte, die am 18. Januar 1843 in der „Breslauer Zeitung“ angegeben wurden. An erster Stelle dieses seltsamen politischen Indexes figurierte das Gedicht Großhandel, in dem Hoffmann die Teilungen Polens mit dem Sklavenhandel verglich und bitter ironisch in der Schlussstrophe konstatierte:
Und man wird noch wiederholen
Diese Wohlthat oft,
Denn es giebt noch manches Polen,
Wo man Theilung hofft.
Versuchen wir jetzt, das historische Bewusstsein der heutigen und der kommenden Generationen neu zu gestalten, so soll auch das hier kurz geschilderte Hoffmann-Kapitel ans Tageslicht gehoben werden. Gerade die aus dem Hoffmannschen pluralistischen Wissensdrang für die schlesische Vergangenheit und Gegenwart resultierende Pflege und Popularisierung nicht nur der deutschen, sondern auch der polnischen Kultur so wie sein mutiger Angriff gegen die Teilnahme Preußens an den Teilungen Polens können als Argument gegen die Versuche der nationalistischen Einordnung des Autors des Deutschlandliedes angeführt werden. Seine Sympathie für den polnischen Freiheitskampf war ein Echo der Polenbegeisterung in Deutschland, die ihren Höhepunkt in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts, u. a. während des Nationalfestes der Deutschen in Hambach, erlebte. Diese Phänomene sollten den breiteren Bevölkerungsschichten möglichst nahe gebracht werden, damit sie in der Gestaltung einer neuen Dimension in der deutsch-polnischen Nachbarschaft neben der Erinnerung an das tragisch belastete Verhältnis unserer Völker auch an die positiven Traditionen anknüpfen können.
II. Stereotype Vorstellungen
Der Aufbau einer zukunftsorientierten deutsch-polnischen Partnerschaft ist m. E. auch
ohne gegenseitige kritische Analyse der kulturspezifischen Fremdwahrnehmungsmuster
nicht möglich, wofür Hoffmanns Ansichten als Ausgangspunkt für die heutigen Identifikationsversuche dienen können. Obwohl Hoffmann von Fallersleben u. a. auch
das polnische Kulturerbe in Schlesien anerkennungsvoll und fleißig erforschte, jammerte er
in Breslau darüber, hart an der polnischen Grenze (…), in mein(em) polnisch(en) Elend einsam leben zu müssen, in dem mir meine Kalbfleischsuppe nicht mehr schmeckt.
Im Hoffmannschen Bild vom polnischen Elend in Schlesien der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gibt sich das seit dem 18. Jahrhundert immer wieder beschworene Stereotyp der „polnischen Wirtschaft“ zu erkennen. Die Verachtung für das wenig attraktive, angeblich zivilisatorisch noch rückständige Nachbarland schwingt auch an der Schwelle zum dritten Jahrtausend in den Polenbildern vieler Deutschen mit.
Deutschland hat sich – wie bekannt – als Anwalt Polens für die EU-Aufnahme meines Landes tatkräftig eingesetzt, trotzdem rangiert Polen auf der Interessenprioritätsliste der weiteren deutschen Bevölkerungsschichten leider unten. Wie vor einigen Monaten, Ende Oktober 2007, ein deutscher Journalist in einem in Polen veröffentlichten Interview bekräftigte, würden Berichte aus Polen lediglich von 12 bis 15% der Leser der „Süddeutschen Zeitung“ regelmäßig gelesen, 85% der Leser wiesen gar kein Interesse an Polen auf. Bei denen – ich zitiere weiter aus diesem Interview – überleben die alten Stereotype.
Aus der Perspektive des von mir geleiteten Lehrstuhls für Kultur der deutschsprachigen Länder und Schlesiens wird ersichtlich, dass mehrere Paradigmen in der gegenseitigen Wahrnehmung von Polen und Deutschen sich zwar im Verlaufe von Jahrhunderten verändert haben, viele stereotype Vorstellungen aber bis heute nachhaltig weiter wirken. Auf diese Weise bleibt das heutige Polenbild in Deutschland verschiedenen „modernisierten“ Fassungen des alten Stereotyps „polnische Wirtschaft“ verhaftet. Im Vorfeld der EU-Osterweiterung war z. B. in den deutschen Medien die polnische Landwirtschaft mit pejorativen Bildern immer wieder stark präsent. Die Bilder zeigten häufig ein Pferd und einen polnischen lebensmüden Bauern am Pflug und sollten die zivilisatorische Rückständigkeit Polens vor Augen führen. Von meinem Lehrstuhl wurden derartige Illustrationen reichlich gesammelt. Ich fürchte, dass die Vorstellung des rückständigen und verarmten Polen sich in Deutschland leider noch hartnäckig hält, wenn es etwa in einer in Deutschland im Oktober 2007 veröffentlichten Umfrage heißt: nur noch eine hauchdünne Mehrheit der Deutschen (47 Prozent) findet es gut, dass Polen seit 2004 Mitglied der EU ist; 45 Prozent halten diesen Schritt inzwischen für voreilig. Dass negative stereotype Vorstellungen von dem östlichen Nachbarn immer wieder belebt werden, bekräftigen die Ängste vieler deutscher Bürger vor der Öffnung der deutsch-polnischen Grenze im Sinne des Schengener Abkommens im Dezember 2007. Einerseits berichteten die Medien in beiden Ländern über die Freundschaftsgesten höchster politischer Instanzen, auf der anderen Seite informierte die polnische Presse über zusätzliche polizeiliche Sicherheitsmaßnahmen in Deutschland. Angesichts dieser Reaktionen entschuldigte sich
ein deutscher Journalist in einem sarkastischen Artikel für das Schengener Abkommen und schlug die Errichtung der Mauer an der Oder-Neiße vor, damit die Freundschaft erneut aufblühen kann, wie ehedem zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen.
Solange man Polen am Rhein und an der Elbe vorwiegend mit dem Exodus der Gefahren und mit billigen Saisonarbeitern assoziiert, können die Erfolge im deutsch-polnischen Verständigungsprozess nur als begrenzt betrachtet werden. In Anbetracht des starken Desinteresses vieler Deutschen an ihrem östlichen Nachbarn assoziieren lediglich
die Vertreter der deutschen „gebildeten Stände“ – um sich einer schönen Formel aus der Lebenszeit Hoffmanns zu bedienen – Polen mit Mickiewicz, Lem, Górecki, Penderecki und Bartoszewski. Dabei geht es mir in meinen heutigen Ausführungen nicht um die deutsche polenfreundliche Elite, sondern um diesen Großteil der deutschen Gesellschaft,
der sich durch mediale Bilder stark beeinflussen lässt. Ein in Deutschland lebender, deutsch-polnischer Schriftsteller Peter-Piotr Lachmann leidet unter der nicht beseitigten Belastung in der gegenseitigen Wahrnehmung so stark, dass er meint, die Vertreter der deutschen und polnischen Elite müssen – so seine These – sogar eine Niederlage hinnehmen:
Diese Hoffnung (auf Versöhnung – M.H.) teilten Humanisten auf beiden Seiten. Es gibt einige, hauptsächlich an den Universitäten. In Deutschland erschienen polnische Bücher, ich habe selbst ungefähr 40 übersetzt (…). Wir haben uns Hoffnungen hingegeben, dass es zur Versöhnung, zum Verständnis kommt, woraus eine neue Qualität der Beziehungen zwischen uns resultieren würde. Es gab eine enorme Anstrengung vieler Menschen auf beiden Seiten der Grenze. Sie haben ihr Leben der Annäherung von Polen und Deutschen gewidmet. Aber unsere Bemühungen haben sich als Utopie ergeben. Es ist eine Niederlage der Humanisten. Im Turnus von einem Dutzend Jahren zeigt sich, dass wir es mit einer Tabula rasa zu tun haben und jede nächste Generation neu anfangen muss.
Ich teile diesen Kulturpessimismus nicht und gehe davon aus, dass die Distanzierung gegenüber dem östlichen Nachbarn dank unserer intensiven tagtäglichen Anstrengungen
z. B. in der Jugendarbeit und im Bildungsbereich abnehmen kann.
III. Jugendarbeit
Mit Polen kam Hoffmann von Fallersleben zum ersten Mal in seinem Leben im Jahre 1823
in Schlesien in Kontakt, als er – damals 25 Jahre alt – am 24. März 1823 den Boden der Stadt Breslau betrat. In der Wahrnehmungsperspektive des jungen Hoffmann war das preußische Schlesien ein weißer Fleck:
Schlesien kannte ich noch gar nicht. Was ich davon wußte, hatte ich aus Büchern erfahren und aus den Erzählungen meiner Freunde. Es war mir eigentlich von Deutschland zu fern und nun von Holland, mit dem ich noch immer in lebhaftem freundschaftlichen Verkehre stand, erst recht fern. Meine Mutter weinte als ich nach Bonn ging; wie sie hörte, ich müsse nach Breslau, weinte sie nicht mehr, das lag ihr außer der Welt.
Aufgrund meiner eigenen akademischen Erfahrung weiss ich, dass nicht nur das heutige polnische Wroc³aw (Breslau), sondern das ganze Nachbarland Polen für die meisten jungen Deutschen außerhalb ihres Erfahrungshorizontes liegt. Die Fixierung vieler deutscher Jugendlichen vor allem auf den Westen ist so stark, dass in ihrem Europabild nicht nur
Schlesien und Polen, sondern die Länder Ostemitteleuropas insgesamt eine Randposition einnehmen. Bei Begegnungen mit deutschen Touristen, meist Vertretern der Erlebnisgeneration, am prachtvollen Breslauer Ring fällt meist das Fehlen deutscher Jugendlichen auf. Für mich, einen polnischen Germanisten, der sich seit Jahren an der Ausbildung junger polnischer Multiplikatoren für den deutsch-polnischen Dialog beteiligt,
ist das ein äußerst wichtiger Aspekt. Wir sind uns alle der Tatsache sehr wohl bewusst,
dass die Vergangenheit in den deutsch-polnischen Wechselbeziehungen zwar von einer großen Relevanz ist; gleichzeitig aber gilt der Satz: „Wer die Jugend hat, hat
die Zukunft“.
Bei diesem Ausgangspunkt drängt sich zum Beispiel die Frage auf, ob Studien- oder Praktikantenplätze an den Universitäten der ehemaligen Ostblockstaaten überhaupt eine Referenz für die deutschen Studierenden sind. Wie mir vor kurzem mitgeteilt wurde, sei nur eine einzige Studentin eines germanistischen Instituts in Niedersachsen an einer gut dotierten Lektorenstelle in der europäischen Metropole Prag interessiert gewesen.
Wie die sehr erfolgreichen Erfahrungen der jahrelangen germanistischen Instituts-partnerschaft zwischen der Freien Universität in Berlin und meiner Alma mater bestätigen, haben wir es seit Jahren mit einer starken Asymmetrie in den deutsch-polnischen Kontakten junger Menschen zu tun, was ein in Polen veröffentlichter Bericht eines Berliner Professors zur Genüge veranschaulicht:
Es hat einige Zeit gebraucht, gerade bei den deutschen Studenten die Fixierung des Blicks nach Westen aufzuheben. Natürlich haben immer noch New York, Paris, London, Rom oder Amsterdam die größere Anziehungskraft für deutsche Studenten, die für einige Zeit an ausländische Universitäten zu gehen beabsichtigen.
Es hat tatsächlich viel Mühe gekostet, hier zitiere ich weiter den um die deutsch-polnische Kooperation stark verdienten Berliner Akademiker, seine Studenten zu veranlassen, das Experiment zu wagen und es mit Wroc³aw zu versuchen. Dass die Anstrengungen bei der Bahnbrechung nach Ostmitteleuropa manchmal auch im Sande verlaufen können, bestätigt die Mitteilung eines Oldenburger Historikers, der sich mit der heutigen Rezeption eines der größten deutschen Romantiker, des aus Oberschlesien stammenden Joseph Freiherr von Eichendorff auseinandersetzt:
Eine 2001 unter Schülern der Eichendorff-Schule in Erlangen durchgeführte Umfrage ergab, dass der Name des Dichters von vielen jugendlichen Respondenten nicht einmal mit Literatur in Beziehung gesetzt wurde und ihn ad hoc überhaupt nur ein einziger Schüler richtig zuordnen konnte. Eine westdeutsche Germanistin, die mit ihren Studenten eine Studienreise auf den Spuren Eichendorffs durch Oberschlesien veranstalten wollte, sah sich vor die Tatsache gestellt, dass die Vorstellung einer Reise unter dem Motto Eichendorff kaum auf studentisches Interesse stieß. Sie musste die geplante Fahrt absagen.
Ja, dieses Vorhaben, das Experiment zu wagen und es mit Wroc³aw zu versuchen enthüllt die Notwendigkeit einer Osterweiterung der deutschen mental maps. Ähnlich wie dem jungen Hoffmann von Fallersleben das preußische Schlesien von Deutschland zu fern war, ist nicht nur das heutige polnische Schlesien, sondern das ganze Polen für zahlreiche junge Deutsche eine Terra incognita. Wie viele von ihnen haben eine Vorstellung davon, dass die deutsche Hauptstadt Berlin von der polnischen Grenze 90 Kilometer entfernt liegt?
Trotz der hier geschilderten Bedenken des jungen Hoffmann, in preußischem Breslau Fuß zu fassen, erkannte der Ankömmling aus Fallersleben während seines Aufenthaltes im Oderland die Relevanz der kulturellen Topographie Schlesiens, das so stark in den Vordergrund seines wissenschaftlichen Interesses rückte, dass er – wie bereits gesagt – als Mitbegründer der schlesischen Kulturgeschichte gilt. Diese erfreuliche Tendenz beobachten wir auch heute bei diesen wenigen jungen Deutschen, seien es Studenten, die ihr Praktikum an polnischen Universitäten absolvieren, seien es Schüler, die im Rahmen des institutionalisierten Schüleraustauschs ein paar Tage bei ihren polnischen Gastfamilien verbringen. Sie alle kommen – hier zitiere ich nochmals aus dem Bericht des befreundeten Berliner Germanistikprofessors – äußerst angetan bis begeistert zurück und werden zu werbenden Multiplikatoren unter den Kommilitonen. Das gleiche gilt für die polnischen Jugendlichen, die die Gastfreundschaft der deutschen Hochschulen oder Gastfamilien genießen. Gerade angesichts aktueller Irritationen im Bereich der deutsch-polnischen Beziehungen brauchen wir Dutzende von diesen jungen Multiplikatoren. Unter diesem Gesichtspunkt muss man fragen, welche konkrete Rolle nicht nur der Schule und der Universität, sondern uns allen bei der Gestaltung der guten Nachbarschaft zukommt.
Auch auf diesem Gebiet ist das Verfahren Hoffmanns von Fallersleben ein nachahmenswertes Beispiel. Um die breiten Zuhörerkreise zu erreichen und sie für seine politischen Ideen zu gewinnen, verließ Professor Hoffmann von Fallersleben immer wieder den akademischen Vortragssaal und versuchte die Menschen mit seiner einfachen politischen Gelegenheitsdichtung zu erreichen. Die Singbarkeit seiner gesellschaftskritischen Verse war sein Herzensanliegen, seine politischen Lieder waren zum Singen im Breslauer Schweidnitzer Keller und in anderen Gaststätten vorgesehen.
Diese Erfahrung Hoffmanns ist auch an der Schwelle zum dritten Jahrtausend mit unserer Arbeit „von unten“ produktiv umzusetzen. In der Hoffnung auf Ihr wohlwollendes Verständnis erkläre ich mich bereit, unseren 1200 Breslauer Germanistikstudenten – falls dies möglich wäre – auf Ihre Empfehlung ein germanistisches Teilzeitstudium oder ein Sprachpraktikum in Deutschland vorzuschlagen. Von Ihnen allen erwarte ich aber zugleich, dass nicht nur Sie, sondern auch Ihre Kinder und Enkelkinder, in der kommenden Sommerzeit das Experiment wagen und ein Ticket nach Polen buchen. Wenn Ihre Wege an die Breslauer Universität führen, wo Hoffmann seit 1830 als außerordentlicher und ab 1835 als ordentlicher Professor für deutsche Sprache und Literatur tätig war, dann erleben Sie eine Alma mater,
von der ein namhafter deutscher Schlesienforscher mit vollem Recht behauptet: Kaum eine Universität Europas hat eine so wechselvolle Geschichte wie die in Breslau. In Wroc³aw erlebt man eine moderne Großstadt mit europäischem Flair, was viele Touristen dazu bewegt, ihre bis dahin wenig positiven Polenvorstellungen zu korrigieren. Im Geiste Hoffmanns sollen wir uns dann gemeinsam, Deutsche und Polen, im Breslauer Schweidnitzer Keller an einen Biertisch setzen und mit den von mir ungeschickt paraphrasierten Versen aus dem hier zitierten Gedicht Hoffmanns Großhandel voll guten Willens bekennen:
Und man soll froh wiederholen,
Diese Botschaft oft,
Es gibt Deutschland, es gibt Polen
Wo man Freundschaft hofft.
Zur Person Prof.Dr.Marek Halub
Prof. Dr. habil. Marek Ha³ub, geb. 1957, Germanist,
Stellvertretender Direktor des germanistischen Instituts an der Breslauer Universität, Leiter des Lehrstuhls für Kultur der deutschsprachigen Länder und Schlesiens, Autor mehrerer Veröffentlichungen (über 80) zur deutschen Literatur, zur schlesischen und schwäbischen Kulturgeschichte wie auch zu den deutsch-polnischen Wechselbeziehungen, Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats im Bundesinstitut für Geschichte und Kultur der Deutschen im östlichen Europa in Oldenburg, Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Zeitschrift für Rezensionen zur germanistischen Literaturwissenschaft „Arbitrium“, Mitherausgeber der wissenschaftlichen Serien „Germanica Wratislaviensia“ und „Schlesische Gelehrtenrepublik“, Preisträger des internationalen Ludwig-Uhland-Förderpreises 2005, Mitpreisträger des Sonderpreises des Schlesienpreises des Landes Niedersachsen 2006 (zusammen mit dem von ihm geleiteten Lehrstuhl und der Hoffmann-von-Fallersleben-Gesellschaft), über 50 Gastvorträge in Deutschland,
wissenschaftlicher Betreuer mehrerer Doktorarbeiten und über 150 Magisterarbeiten
——
2003 organisierte er an der Breslauer Universität eine internationale Hoffmann-von- Fallersleben-Tagung. Der Tagungsband Hoffmann von Fallersleben. Internationales Symposion Wroclaw/Breslau 2003, hg. v. Marek Halub und Kurt Schuster, erschien in Bielefeld 2005: Verlag für Regionalgeschichte (Braunschweiger Beiträge zur deutschen Sprache und Literatur, Bd. 8), 310 Seiten.
2005 erschien seine Monographie Im schlesischen Mikrokosmos. August Heinrich Hoffmann von Fallersleben. Eine kulturgeschichtliche Studie, Wroclaw 2005: Universitätsverlag, 352 Seiten.
2007 organisierte er einen deutsch-polnischen Workshop „Hoffmann von Fallersleben als deutscher Erinnerungsort“ für 60 Breslauer Germanistikstudenten
Prof. Marek Halub veröffentlichte mehrere wissenschaftliche Aufsätze zum Leben und Werk Hoffmanns von Fallersleben. An der Breslauer Universität organisierte er auch ein Konzert mit Hoffmanns Liedern (2007). Hoffmann von Fallersleben gehört zum Lehrprogramm des von ihm geleiteten Lehrstuhls für Kultur der deutschsprachigen Länder und Schlesiens.
Sein Werk wird während der Kurs- und Gastvorträge, im Rahmen der Lizenz- und Magisterseminare wie auch der landeskundlichen Übungen für die Breslauer Germanistikstundenten thematisiert.
Michael Bludau verabschiedet
Für seine großen Verdienste um die Hoffmann-Rede sowie als langjähriger Vorsitzender des Arbeitskreises Hoffmann-von-Fallersleben im Heimat- und Verkehrsverein Höxter wurde Michael Bludau, ehemaliger Direktor des König-Wilhelm-Gymnasiums, zum Ende der diesjährigen Hoffmann-Rede in Corvey verabschiedet. Landrat Hubertus Backhaus dankte Michael Bludau mit einem Reprint einer Originalausgabe „Lieder aus dem Deutschland des 16. und 17.Jahrhundert“ von Hoffmann von Fallersleben.