2. Rede: Dr. Klaus Kinkel
Bundesaußenminister a. D.
Dr. Klaus Kinkel
2. Hoffmann-von-Fallersleben-Rede 2003
am Donnerstag, dem 1. Mai 2003, 11.00 Uhr,
im Kaisersaal von Schloss Corvey
Die Volksbank Höxter-Beverungen wird auch in diesem Jahr eine Dokumentation der Veranstaltung mit dem vollständigen Text der 2. Corveyer Hoffmann-von-Fallersleben-Rede herausgeben. Der Zeitpunkt der Fertigstellung der Dokumentation wird in der Lokalpresse bekannt gemacht. Dann wird auch diese Rede im Wortlaut und an dieser Stelle nachzulesen sein. Vorläufig ist hier eine Bericht über die gesamte Veranstaltung veröffentlicht vom Initiator der „Hoffmann – Rede“, Herrn Michael Bludau.
Als im Herbst 2000 die Idee einer Corveyer Hoffmann-von-Fallersleben-Rede vom Arbeitskreis „Hoffmann von Fallersleben“ im HVV Höxter an das Haus Corvey, die Stadt und den Kreis Höxter und die Volksbank Höxter-Beverungen herangetragen wurde, fand dieser Plan allgemeine Zustimmung, doch bestand zugleich Skepsis, ob sich das alles auf dem angestrebten hohen Niveau verwirklichen lassen würde. Schon die erste Rede im Mai 2002 mit Bundespräsident a. D. Prof. Dr. Roman Herzog übertraf alle Erwartungen. Ein Jahr später erwies sich Bundesaußenminister a. D. Dr. Klaus Kinkel als ein würdiger Nachfolger in der von Roman Herzog begründeten Tradition. Kein Wunder also, dass Franz Albrecht Herzog von Ratibor und Fürst von Corvey sowohl in seiner Begrüßung als auch im Schlusswort die Bedeutung der Corveyer Hoffmann-von-Fallersleben-Rede für Corvey und Höxter und weit darüber hinaus nachdrücklich betonte und dieser Einrichtung weiterhin einen überregionalen Stellenwert als Ort der geistigen Auseinandersetzung wünschte. Wörtlich führte er aus: „Ich glaube, dass es ganz in seinem (d. i. Hoffmanns) Sinne wäre, dass an diesem Tage (an dem Hoffmann seine Tätigkeit als Bibliothekar in Corvey aufnahm) prominente Persönlichkeiten aus Politik, Literatur oder Wissenschaft zu Wort kommen, Menschen, die aus ihrer Lebenserfahrung einen interessanten Vortrag gestalten. Das sollen Vorträge sein aus der Vergangenheit und der Gegenwart sowie Zukunftsperspektiven, aus den verschiedensten Perspektiven von rechts nach links, über nationale oder internationale Fragen, Kritisches und Positives.“
Eingeführt wurde der Gastredner von Dr. Günther Tiggesbäumker, dem derzeitigen Betreuer der Fürstlichen Bibliothek. Er erinnerte zunächst an das Wirken Hoffmanns als Bibliothekar in Corvey und zeigte dessen Leistungen bei der qualitativen Verbesserung der Bibliothek auf, von der Hoffmann später behaupten konnte: „Wir umfassen die ganze Welt, alle Zeiten, alle Völker, Himmel und Erde und Alles, was drin, drauf, dran und drum.“ Hoffmann habe die Bibliothek gern und stolz Besuchern gezeigt, und so leitete Tiggesbäumker zu dem Festredner über mit den Worten: „Hoffmann von Fallersleben hätte sich sicherlich gefreut, Sie hier begrüßen zu dürfen, um Ihnen die Schätze der Fürstlichen Bibliothek zu zeigen.“
Klaus Kinkel schloss mit seinen Ausführungen an die Vorjahrsrede von Roman Herzog an: Einmal verwies er darauf, dass er schon mit elf Jahren, also in einem wesentlich jüngeren Alter als Roman Herzog, zum ersten Mal Corvey mit seinem Vater besichtigt habe. Zum anderen knüpfte er an die Aufforderung Herzogs an: „Lasst uns über seine (also Hoffmanns) Anregung nachdenken, was das ist, das Glück des Vaterlandes!“ Kinkels Beschreibung der deutschen Befindlichkeit lautete: „Einigkeit und Recht und Freiheit haben wir im Sinne des Hoffmannschen Deutschlandliedes wieder erreicht. Blüht aber das deutsche Vaterland im Glanze dieses Glückes? Wäre Hoffmann von Fallersleben mit uns zufrieden? Ich sage es vorsichtig: sicher nicht ganz. Diesem Glücksgefühl von 1989 und der begeisterten Euphorie folgte allzu rasch Ernüchterung, Selbstverständlichkeit. Wir haben das große Glück allzu schnell vergessen. Da ist eine nörgelnde Unzufriedenheit, z. B. ob der Kosten und der ‚Mühen der Ebene’ nach der Wiedervereinigung. Die Aufbruchstimmung ist weitgehend verflogen.“
Auch wenn Kinkel nicht die „pessimistische Grundstimmung weiter anheizen“ wollte und durchaus eine Reihe von positiven Dingen sowohl bei der Wiedervereinigung als auch im derzeitigen Zustand der Bundesrepublik sah, wollte er seine Augen nicht vor Fehlentwicklungen schließen, die zu Erstarrungen und Verkrampfungen der Strukturen unserer Gesellschaft geführt haben. „Wir sind wie Gulliver durch Tausende von Fäden an den Boden gebunden, relativ unbeweglich, unflexibel und nicht in der Lage, unsere eigentliche Kraft zu entfalten.“ Diesen Zustand führte Kinkel auch darauf zurück, dass die politische Klasse ihre Pflichten gegenüber dem eigenen Volk nicht ausreichend wahrnehmen und begreifen will, „weil ihnen ihr parteitaktisches Denken den Blick verstellt oder weil sie Angst davor haben, die Interessen von solchen Teilen der Gesellschaft zu verletzen, von denen sie sich abhängig fühlen. (…) Unsere Politik darf nicht von Flachwurzligkeit, Oberflächlichkeit, Beliebigkeit bestimmt sein; sie muss wieder zu moralisch-ethischen Wertvorstellungen finden. Substanz ist wichtiger als schaustellerische Fähigkeiten. Das ist alles andere als altmodisch.
Anderenfalls wird die schon vorhandene Politik- und Parteiverdrossenheit weiter zunehmen, und die Bürger werden, so wie es Baring kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gefordert hat, vielleicht doch noch auf die Barrikaden gehen. Da wäre Hoffmann wohl dabei gewesen, so wie jahrelang im Südwesten bei den Diskussionen der liberalen Kammerabgeordneten zu Land- und Steuerreform, zu Reform von Verwaltung und Schulen.“
Der Redner weitete dann die Forderung nach „Einigkeit und Recht und Freiheit“ aus, indem er diese nicht nur an die Deutschen, sondern auch an die Europäer gerichtet sah. Wörtlich sagte Kinkel: „So ist es denn sicher nicht verwegen oder gar unhistorisch, Hoffmanns dritte Strophe des Deutschlandliedes als Wunschvorstellung auch auf Europa zu übertragen, zumal Hoffmann sich ja auch in europäischen Ländern bewegt und wohlgefühlt hat. (…) Wir Deutschen dürfen nicht vergessen, dass es unter anderem der Freiheitswille der Menschen in den heutigen Beitrittsländern (zur EU) war, der entscheidend zu unserer Wiedervereinigung beigetragen hat. Über Jahrzehnte hatten wir den Menschen dieser Länder zugerufen: Werft den Kommunismus ab, kommt in unsere freiheitliche westliche Wertegemeinschaft. Jetzt dürfen wir sie nicht enttäuschen. (…) ‚Einigkeit und Recht und Freiheit’ haben wir ihnen zugesagt.“
Doch ergeben sich gerade aus diesem europäischen Einigungsprozess neue Probleme und Fragen: „Quo vadis, Europa? Schaffen wir die Einigkeit, rechtsstaatliche Strukturen und absolute Freiheit? Kann dieses Europa im Glanze seines Glückes blühen?“ Kinkel beantwortete diese Frage eher verhalten pessimistisch. Den Erfolgen bei der europäischen Einigung im wirtschaftlichen Bereich stände eine tiefe Entzweiung im politischen Bereich gegenüber, die besonders deutlich bei den unterschiedlichen Positionen zum Irak-Krieg geworden sei. Deutschland sei dabei nach Ansicht Kinkels aus Wahlkampfgründen zu früh vorgeprescht und habe eine „unglückselige Achse“ mit Frankreich und Russland gebildet.
Natürlich sei diese europäische Zwietracht auch durch die Fehler, die Amerika in der Irak-Frage gemacht habe, bedingt. Die völkerrechtliche Begründung für den Einsatz im Irak sei zum Teil fadenscheinig, wenn auch amerikanische Überreaktionen durch das Trauma der Erlebnisse vom 11. September verständlich würden. Insgesamt könne man sagen, sowohl die USA als auch Europa tragen Schuld an den derzeitigen Verwerfungen. Es sei aber nun allerhöchste Zeit, wieder aufeinander zuzugehen, denn es sei für Kinkel ganz offensichtlich, dass wir am Beginn einer neuen Weltordnung ständen. Wir Deutschen müssten uns sehr vorsehen, dass die Amerikaner uns nicht nur als „Weicheier“ wahrnehmen, als „an Urlaub und Wohergehen orientierte pazifistische Schwätzer“, „als Zuschauer auf der Tribüne, wenn es um wirklich wichtige Aufgaben der Außen- und Sicherheitspolitik geht.“
Und deshalb muss ein in Europa fest eingebundenes Deutschland gemeinsam mit der Gemeinschaft dieser Staaten eine eigenständige außenpolitische Rolle anstreben. Denn wir sind – wie Kinkel ausführte –
„- als hochentwickelte und tiefvernetzte Gesellschaften von möglichen Terroranschlägen
extrem stark gefährdet;
– aufgrund unserer Exportorientierung von einem möglichst reibungslosen Ablauf der Globalisierungsprozesse, vom freien Welthandel und von einer gesicherten Rohstoffversorgung stärker abhängig als viele andere;
– aufgrund demographischer Probleme und sensibler innenpolitischer Gleichgewichte von ungesteuerter, möglicherweise massenhafter Migration potentiell besonders gefährdet und gleichzeitig auf gesteuerte Migration zunehmend angewiesen“.
Wir Europäer – so Kinkel – müssten jedes Interesse daran haben, die Verantwortung für unsere Welt nicht allein den USA zu überlassen. „Wir müssen in unserem eigenen Interesse dazu übergehen, sozusagen aus der Hubschrauber-Perspektive auf die Welt und ihre Probleme und Bedrohungen zu blicken – und nicht wie bisher aus einer Art U-Boot-Perspektive, eingetaucht in den Bodensee, die Ostsee oder im Mittelmeer.“
Ohne die Rolle Deutschlands in der Weltpolitik zu überschätzen, müsse die Bundesrepublik die europäische Einheit, auch im Bereich der Verteidigungspolitik, stärken und ausbauen. „Bei allen in Europa bestehenden Divergenzen und manchmal auch Eifersüchteleien gilt doch: Letztlich sind wir Europäer uns politisch, kulturell, durch unsere geopolitischen Interessen und nicht zuletzt aufgrund unserer wirtschaftlichen Verflechtungen untereinander doch immer noch am nächsten. Und wir werden das, was uns an weltweiten Interessen und Grundübereinstimmungen eint, aufs Spiel setzen, wenn wir uns im kleinstaaterischen Streit über tatsächliche oder vermeintlich unterschiedliche Einzelinteressen verlieren. Hoffmann von Fallersleben müsste sich heute auch der Erkenntnis anschließen, dass gerade in der Außen- und Sicherheitspolitik die Beschränkung auf das Nationale nicht mehr möglich ist.“
Nach diesem Exkurs in die Europa- und Weltpolitik kehrte der Redner zu Hoffmann von Fallersleben zurück und fragte: „Habe ich ihn mit dem Bezug auf Europa überdehnt? Dreht er sich draußen in seinem Grabe um? Ich hoffe nicht. Wenn doch, bitte ich den liberalen Rebellen um Nachsicht. (…) Das bringt mich – wie Roman Herzog – am Schluss meiner Ausführungen zu der Anregung, dass besonderes Nachdenken auf Hoffmann von Fallersleben als ‚Kenner der Kulturen’ gelegt werden könnte und sollte. Damit hat er sich viel beschäftigt; das zeigen u. a. die in seiner Zeit erworbenen wunderschönen Bildbände verschiedener Kulturen. Spätestens die Ereignisse vom 11. September in den USA haben uns gezeigt, dass wir in Europa und Deutschland viel zu wenig von der Welt des Islams und anderer Kulturen wissen und dass wir uns bei all dem, was ich an Problemen der Welt zu schildern versuchte, nun wirklich nicht den Huntington’schen Clash der Kulturen leisten können, sondern dringendst weltweit den interkulturellen Dialog brauchen.“
Bei der anschließenden Überreichung der Corveyer Hoffmann-von-Fallersleben-Plakette betonte Bürgermeister Hecker, wie wichtig der Grundgedanke der Rede sei, dass nämlich die Einheit der europäischen Kultur und die Vielfalt der Nationen eng zusammen gehören: „Hoffmann von Fallersleben würde es heute ähnlich sehen: Deutsche Kultur ist europäische Kultur. Wer über Deutschland nachdenkt, denkt gleichzeitig über Europa nach.“ Hecker konnte die erfreuliche Mitteilung machen, dass von den Teilnehmern der Veranstaltung über 6.000 Euro an die von Dr. Kinkel vorgeschlagene Stiftung für die Betreuung sexuell missbrauchter Kinder eingegangen seien. Die von dem Streichquartett der Musikschule Höxter mit dem Sätzen aus dem Kaiserquartett von Haydn umrahmte Veranstaltung schloss mit dem Eintrag des Gastredners in das Goldene Buch der Stadt Höxter. Anschließend traf man sich zu einem lebhaften Meinungsaustausch beim Empfang in den Räumen von Schloss Corvey.
Die Volksbank Höxter-Beverungen wird auch in diesem Jahr eine Dokumentation der Veranstaltung mit dem vollständigen Text der 2. Corveyer Hoffmann-von-Fallersleben-Rede herausgeben. Der Zeitpunkt der Fertigstellung der Dokumentation wird in der Lokalpresse bekannt gemacht.
Michael Bludau